Die Toten wandern durch Generationen

Frau Ulrike Meinhof. Exzellente Journalistin, Redakteurin der Konkret, erste deutsche Journalistin im Warschauer Getto, die mit Marcel Reich Ranicki sprach. Frau Ulrike Meinhof. Kopf der RAF. Eine Frau, die aus allen akademischen Zirkeln verbannt wurde; verschoben ins Becken der Gammler, der Arbeiter, der Gastarbeiter, der Anarchisten. Frau Ulrike Meinhof. Eine Mutter, die 1976 starb. Frau Ulrike Meinhof. Eine Terroristin, eine Staatsfeindin, eine Bedrohliche, die sich in der Isolationshaft eines Gefängnisses, das für die RAF-Prozesse erbaut wurde, das Leben nahm. Sie schnitt ein Handtuch in Streifen und erhängte sich an den Gitterstäben ihrer Zelle. Kaum ein Friedhof wollte diese Frau beerdigen. Sie wurde auf dem Dreifaltigkeitsfriedhof III in Berlin-Mariendorf beerdigt. Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer, ein Freund von Rudi Dutschke, Seelsorger von Frau Ulrike Meinhof, hielt die Trauerrede. Der Verleger Klaus Wagenbach sagte, sie sei an den "deutschen Verhältnissen" zugrunde gegangen. Um die damaligen "deutschen Verhältnisse" zu verstehen, muss man erwähnen, dass die Tochter erst im Jahr 2002 erfuhr, dass die Gerichtsmedizin das Gehirn ihrer Mutter entnommen hatte, in Formalin legte und nach der Wende in der Psychiatrischen Universitätsklinik Magdeburg untersuchte. Eine Ethikkommission forderte das Ende dieser Untersuchung, der Staatsanwalt Stuttgart ließ die Einäscherung (?!) des Gehirns anordnen. Die Urne wurde der Familie übergeben (!) und so wurde am 22.12.2002 auch das Gehirn der Frau Ulrike Meinhof auf dem Friedhof Dreifaltigkeit III beerdigt. Ihr Grab wird bis heute auffallend schön gestaltet. Ihr Grab sagt mir, dass Akademien, Kollegen, Politiker keine Kränze senden. Ihr Grab sagt mir, dass Kinder bedingungslose Liebe ins sich tragen, dass sie loyal, stark und tapfer sind. Dieses Grab ist in Berlin herausragend, wie die Journalistin Ulrike Meinhof. Am Grab tauchen Gedankenfetzen auf, die in einem Wohnzimmer vor einem TV-Gerät nicht auftauchen würden. Ich erinnere mich an eine Zeit, in der Frau Ulrike Meinhof von ihren eigenen akademischen Kollegen aufgestachelt wurde: "Die fährt einen Porsche, wohnt im nobelsten Bezirk und macht auf Linke." Ein kleiner Stein zieht große Kreise und so kann ein Satz ein Land spalten. Eine Akademikerin heiratet bis heute keinen Handwerker. Er ist dumm. Und wie soll man dummen und schmutzigen Menschen plausibel erklären, dass das sogenannte Recht am Leichnam (Bestattungsgesetz) systemisch aushebelt werden konnte, weil ausgerechnet das Gehirn einer Terroristin dem Staat und nicht der Tochter gehörte. Das Grab von Frau Ulrike Meinhof zeigt, und das kann kein Mensch ändern, dass sie da war. Sie ist keine Anonyme, keine Namenlose in einem anonymen Grab. Sie ist sogar gegenwärtig - als Mutter ganz offenkundig!