Loslassen

Ich habe das Loslassen mal ausprobiert. Schließlich muss ich meinen Kunden sagen: "Nach dem Abschied kommt das Loslassen. Das ist schlimm; und doch ist es möglich." Ich bin froh, dass ich meinen Kopf für eine Weile aus der Arbeit gezogen habe. Ich habe das Müssen und das unbedingt Müssen nach dreißig Jahren losgelassen. Ich fühlte mich tatsächlich wie eine Minenarbeiterin, die nach Jahren das Tageslicht erblickt. Das MUSS sprang von meiner Schulter. Durch das sofortige Aussetzen der ständigen Anspannung fiel ich in einer übergroßen Müdigkeit auseinander. Danach sammelte ich mein zerstreutes ICH entspannt zusammen. Seither höre und sehe ich besser. Ich höre, dass Menschen heute über den Tod reden - ohne dabei das Leben zu besprechen. Früher sprachen die Menschen über das Leben - ohne den Tod zu besprechen. Wir reden über Zuwanderung - ohne dabei die Massen zu besprechen, die abwandern, um den Globus wandern. Wir verderben unsere Zeit, ohne die Zeit, die uns bleibt, zu besprechen. Sollen sich 50-jährige Menschen ihre letzten 20 oder 30 Jahre verderben lassen? Nö! Das sollten sie keinesfalls. Jeder Sportler trainiert langsam ab, um die nächste Disziplin trainieren zu können. Ich höre keine Radiomoderatoren, die sagen: "Unsere Männer und Frauen von der BVG tragen die größte Verantwortung. Natürlich stehen ihnen höhere Löhne zu, denn unsere Kinder entwickeln App`s. Sie können keinen Bus fahren. Sie gründen GmbH`s. Sie mieten selbst Wohnungen von "unwissend kleinen" Eigentümern, die sie dann untervermieten. Unsere 24-jährigen Söhne und Töchter haften bei einer Pleite nur mit dem Stammkapital, und die vielen kleinen und unwissenden Eigentümer müssen den Gerichtsvollzieher nicht bemühen, denn sie werden niemals einen Titel gegen Untervermieter erwirken können." Ich lese Lobeshymnen in der renommierten Presse - geschrieben von 50-jährigen Teenagern. Natürlich sind sie native speakers of American English. Ich wollte Berlin aufbauen. Ich würde mir wünschen, dass Kleingärtner politisch animiert werden, Obst und Gemüse in die verarmten Kindergärten zu bringen. Der Bürgermeister verkauft auch die Reserven und Medien unterstützen ihn dabei. Ich höre social; und so weiß ich, dass Busfahrer mehr Geld verdienen müssen, um Wohnungen für 2.000 Euro anmieten zu können. Da sie bald zahlungsunfähig sein werden, müssen sie sich nicht fürchten, denn kein Gerichtsvollzieher hat Titel gegen Untermieter, wenn der Mieter eines Eigentümers in die Pleite geht. Wohin gehen Witwer oder Witwen? Wohin gehen Frührentner, Studenten, Handwerker? Sie wandern massenweise aus - in alle Himmelsrichtungen. Sie alle sind glücklicher, zufriedener. Sie alle machten aus einer Not eine Tugend. Sie alle ließen dieses MUSS los; und dann begann ihr Abenteuer. Nur ich bleibe hier. Euch kann man einfach nicht alleine lassen.