Armut und Armseligkeit

Grundsätzlich sind arme Menschen, also Menschen ohne Geld, nicht gleich armselig. Das dürfte logisch sein, denn andernfalls müsste ich Kinder, grundsätzlich von der Gunst ihrer Eltern abhängig, wie armselige kleine Bürger behandeln. Armut macht zwangsläufig erfinderisch. Ein weiterer Beweis dafür, dass Armut nicht in die Kategorie Armseligkeit gehört. Am Wochenende wollte ich meine Solidarität für die Gay-Community bekunden. Da der Pride wegen Corona abgesagt wurde, reservierte ich einen Tisch in einem Kreuzberger Biergarten. Motto: Gays gibt es, auch wenn sie nicht demonstrieren dürfen, nicht tanzen dürfen, Abstand halten müssen, maskiert durch den Garten laufen müssen. Ich reservierte einen Tisch für mich. 1 Person könnte einen Tisch für sich allein buchen, weil sie an Vereinsamung leidet, Einzelgänge vorzieht, Menschen unabhängig antreffen möchte. Es kann aber auch sein, dass 1 Person neben der Community erwachsen geworden ist; durch einen bestimmten Beruf, durch Bücher, durch ein abgeschlossenes Studium, durch Fortbildungen, durch die Reibung mit vielen unterschiedlichen Menschen, Kulturen, Klassen…usw. Vielleicht hat diese 1 Person eine sehr schöne Wohnung mit einer ebenso schönen Terrasse, muss sich also nicht in einen Biergarten zwingen. Ich bin gespannt auf einen Abend ohne Bewegung, male mir ein Urlaubsfeeling in einem Garten aus - mit tollen großen Sitzkissen oder Hängematten, womöglich mit Shisha-Tischen. Ich treffe pünktlich um 20.00 Uhr in jenem Biergarten ein und der männliche Türsteher soll leider der einzige freundliche Mensch an diesem Abend bleiben. Der westlich armselige Teil dieser Welt setzt 1 Person nicht in eine nette Gruppe. Ich lande also an einem alten Klapptisch, auf einem wackligen Klappstuhl - im Gebüsch - in der Nähe des Turntables. Statt 5 Euro Eintritt hätte ich auch 20 Euro bezahlt, um in eine Hollywoodschaukel zu gelangen. Immerhin hatten Eventmanager von März bis Juni für die Gestaltung eines Biergartens Zeit. Armut kompensierte mit Fantasie und brächte aufblasbare Traktorreifen oder Luftmatratzen mit. Ich sitze also an Tisch 4, auf einem klapprigen Klappstuhl. Die Läuferinnen laufen durch den Garten und wollen gesehen werden. Was ein Lächeln kostet? Ich frage keinesfalls nach dem Preis und gehe zum Tresen, bestelle Pommes und eine Bratwurst. Ich muss in mich hineingackern und erinnere mich an das Schwimmbad "Poste", in dem wir Kinder uns die Bäuche mit Pommes füllten, bevor wir die Katzen, die Kerzen und die Köpper vom Fünfer sprangen. Eine D-Jane, die auch singen will, kommt an den Turntable und bittet superlässig und supercool um Applaus: "Ihr dürft auch klatschen!" Sie will, dass wir Gäste sie wollen. Ein unpassender Deal, der dem Anlass nicht gerecht wird. Ich gehe zum SB-Counter und bestelle Kaffee. Ich arbeite ungemein viel, die D-Jane klingt müde. Plötzlich zaghaft und kleinlaut singt sie: "How can we break the Silence…" Coolness und Lässigkeit? Nur Verpackung an lockiger Tolle und streng rasierten Seiten. Zurück im Gebüsch - an Tisch 4 - genieße ich meinen dünnen Kaffee. Plötzlich bleibt eine Frau, Ü35, vor meinem Tisch stehen: "Hey. Wir kennen uns doch?" Ich verwandle mich kurz in ein Fragezeichen. "Du bist doch die Bestatterin?" Ich bejahe, wie bei Robert Lembke und warte vergeblich darauf, dass sie sich mir vorstellt. Sie scheint auf dem Sprung zu sein: "Wir haben uns mal beim Friseur getroffen." Sie geht und kommt nach kurzer Zeit mit einem Zettel zurück: "Hier! Das mache ich sonst nie. Vielleicht gehen wir mal einen Kaffee trinken." Sie verschwindet. Ich trinke Kaffee und öffne den Zettel. Eine vor dem Fest verfasste, ausgedruckte Nachricht tut Kunde, dass WIR (?) UNS (?) ALLE (?) immer nur in Chats treffen. Diese Nachricht soll ein echtes Treffen animieren. Ich solle mich doch einfach via Mail melden. Dieser Deal zeigt eine modische Armseligkeit, die die Emanzipation, am Christopher Street Day, in unbeschreiblichem Ausmaß sabotiert und unterwandert. Dieser Deal heißt: "Ich möchte, dass Du mich treffen möchtest." Krankhaft ist es zu nennen, dass eine erwachsene Frau ihren Namen zu vergessen bereit ist. Diese Armseligkeit wurde einem Geschäftsmodell der Armen gestohlen. Jeder in Berlin kennt die stummen Verkäufer in Cafés, die einen Zettel und ein kleines Objekt auf den Tisch legten. Sie wollten, dass der Kunde das kleine Objekt kaufen wollte. Ein fantasievolles Geschäftsmodell, das in der Gesamtsumme viel Geld einbrachte. Frauen, die die Regenbogenfahne als Geschäftsmodell missbrauchen, die die Emanzipation sabotieren, um zu wollen, dass andere etwas von ihnen wollen, sind nicht PRIDE. Sie zerstören das Aufgebaute. Sie zerstören die Regenbogenfahne. Jede von mir durchgeführte Beerdigung in 25 Jahren hatte Stil, Noblesse, Größe und Leben! Diese spätpubertäre Alternative zum Pride war eine bodenlose Unverschämtheit für jede erwachsene und emanzipierte Frau.