Fast gestorben...

…meint nicht ein bisschen gestorben. Ein Supermarkt, ganz in der Nähe meines Geschäftes, wird am 31.10. 2020 überfallen. Es ist Halloween. Die Szenerie erinnert an den gleichnamigen Film. Draußen ist es bereits dunkel. Die Berufstätigen waren einkaufen. Der Parkplatz ist ein stiller großer Platz. Vier eigenwillig maskierte Männer passieren einen echten Wachmann, steuern durch den Verkaufsraum, straight ahead zu den Kassen. Sie ziehen Macheten. Die Frauen an den Kassen geben das Geld, nach Vorschrift, heraus. Heute traf ich eine Mitarbeiterin, die in eine andere Filiale versetzt wurde. Es geht ihr auch heute nicht gut. Sie wäre fast gestorben. Eine echte Bedrohung löst eben ein echtes Trauma aus. Der Pfarrer hat sich nie gemeldet. Der Bezirksbürgermeister fand keine persönlichen Worte. Die Süddeutsche Zeitung druckte zur verewigten Kurzmeldung ein Foto, auf dem das Martinshorn zu sehen ist. Unter dem Foto steht Ein Blaulicht leuchtet auf dem Dach eines Polizeifahrzeugs. Sie hätten auch Unwichtiges vom Tag schreiben können. Fast gestorben...und doch so unwichtig: "Wir sind egal." Ein Berliner Supermarkt ist eben nicht das Capitol; und eine Kassiererin ist keine Senatorin. Ich könnte einem akademischen Kühlschrank etwas über Gefühle und schlechte Träume schreiben, über Ängste und über den Verlust von Vertrauen in der Dunkelheit. Fast gestorben ist einfach nicht vollendet. Stellen wir uns für einen Moment ein völlig anderes System vor. Eine Kassiererin ist weltweit eine wichtige Arbeitskraft, eine wichtige Frau. Sie sitzt an einer Kasse. Sie verwaltet das Geld der Kunden. Sie achtet auf die unbeschadete Ware. Sie genehmigt die Retouren. Sie verdient 6000 Euro netto monatlich. Sie hält Vorträge an Universitäten. Das kann sie, weil sie ein phänomenales Selbstvertrauen hat. Eine Kassiererin trägt zur Zeit ausschließlich Jil Sander. Fast-Fashion gehört nicht zu ihrem Credo. Sie bereist die Welt. Sie kennt die Kassiererinnen dieser Welt - wie ihre Westentasche. Sie kennt den Warenfluss. Sie kennt den Verbrauch von Plastik. Sie weiß es, wo der Müll landet. Nach dem Überfall wird ihr klar, dass die sozialen Unruhen in der Welt bereits an ihrer Kasse angekommen sind. Sie schreibt einen offenen Brief und sie sorgt dafür, dass er im New Yorker erscheint. Sie hat die Kontakte; und schließlich muss jeder Chefredakteur, virtuell oder real, einkaufen gehen. Als Kassiererin kann sie ungemein schnell rechnen. Sie hat sogar die Artikelnummern fast aller Waren im Kopf. Sie schreibt über das erkennbar deterministische Chaos und bestätigt den US-amerikanischen Mathematiker, Edward N. Lorenz. Sie bestätigt das Erkennen des Schmetterlingseffektes. Flügelschläge an der Börse in New York führten letztendlich dazu, dass sie in Berlin - von maskierten Männern - mit Macheten bedroht wurde. Und nun ist die Tatsache, dass sie fast gestorben wäre, ein Anschlag auf alle Kassiererinnen der Welt. Und nun geht es nicht mehr nur um einen Überfall auf einen Supermarkt; es geht also nicht um einen Einzelfall, den man in einer Kurznachricht, nebst unterirdischem Foto, unter einen Teppich kehren möchte. Und genau deshalb verknüpfen sich nie wieder Nationalitäten mit den Worten Machete und/oder Kassiererin.