Die Fassung nicht verlieren
04/02/19
"Pardon, Frau Marschner. Sie können das nicht wissen. Wir übergeben in diesen Tagen den Staatsapparat in die Hände der Wirtschaft." So müssten es respektierte, freie und geschätzte Mitarbeiter, die sich in den Dienst des Staates gestellt haben, oft auch einen Eid schwören, wahrheitsgemäß äußern dürfen. Wir sollen immer die Wahrheit sagen. Die kann aber kein Mensch ertragen. "Frau Chebli trägt eine Rolex. Empört Euch." In Wahrheit ist sie Diplom-Politologin und der Bürgermeister hat einen Realschulabschluss. Findet sich die akademisch reflektierte Welt damit irgendwie tolerant? Ich interessiere mich gerade für öffentliche Ausschreibungen und versuche herauszufinden, warum Bestatter (plural) in Krankenhäusern von großen Berufsvereinigungen als "üblich" bezeichnet werden. Die Vergabekammer Berlin schrieb mir, dass sie für die öffentlichen Vergaben (BER usw.) zuständig ist. Allerdings prüft die Vergabekammer nicht die Rechtmäßigkeit. Ich erhielt von einem Unternehmen einen Unterlassungsbeschluss. Unklar ist noch, was genau ich unterlassen soll. Die Gegenseite schrieb, dass ich ein kleines Bestattungsinstitut betreibe. Da wir eine Faktengesellschaft sind, die über Lügen klagt, kaufe ich ein Handelsregister. Die Firma gehört zu einer Aktiengesellschaft und macht Millionenumsätze. Ich, tatsächlich mit kleinem Bestattungsinstitut, frage mich: "Zieht die Vergabekammer Berlin Handelsregister, wenn sich Firmen, die zu Aktiengesellschaften gehören, an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen? Oder zieht das Kartellamt ein Handelsregister? Wer verhindert eigentlich wie Monopole? Oder wurde das GWB abgeschafft?" Wenn Politik der Wirtschaft überlassen wird, dann muss ich tätig werden, denn ich gehöre in den Wirtschaftsbereich! Ich stolpere im Schriftverkehr mit der Gegenseite über einen sich wiederholenden Satz: "Wir werden die Klage bei diesem Gericht erheben." Warum erwähnt sie das? Es gibt in diesem Fall nur das Landgericht. Dann komme ich darauf, dass die Handelskammer des Landgerichtes gemeint ist. Meine Verwunderung bleibt und so suche ich im Internet die Handelskammer. Ich finde die Vereinigung der Handelsrichter: "Wirtschaftskompetenz für die Justiz." Ich bin wie vom Donner gerührt. Menschen aus der Wirtschaft, begutachtet von der IHK, werden Handelsrichter und vereinigen sich seit vielen Jahren. Das erste Mal verliere ich den Glauben an unseren Staatsapparat; ich fühle mich belogen - und meine Gefühle kann man in diesem Fall nicht widerlegen. Fassungslos lese ich den ausgestellten Brief eines Buchändlers und (!) Handelsrichters, der 1954 zwei Mitstreitern einen Brief schreibt, diese Vereinigung wünscht, keine Pläne hat, die Finanzpolitik ins Visier nimmt - und doch nur die Robe tragen soll. Auf ehrenamtliche Handelsrichter, die neben einem echten Richter, einer echten Richterin arbeiten, wurde ich nie vorbereitet. Nach einiger Zeit stellen sich mir die Schockfragen: "Wie lange studiert und arbeitet eine Frau, um Richterin am Landgericht zu werden? Wie viele rote Ampeln musste sie meiden? Welche Lebenssituationen musste sie sich verbieten? Wie hart muss eine angehende Richterin ihre Kinder erziehen? Und dann könnte ein Buchhändler die Universität überspringen, quer einsteigen und die Richterrobe tragen?" Diese Richterrobe ist kein Kleidungsstück. Sie ist das Synonym für die Integrität eines an die Wahrheit gebundenen demokratischen Staates. Richter und Richterinnen tragen diese Robe auch dann, wenn sie sie nicht tragen. Sie haben das verlässliche Gesicht. Wirtschaftskompetenz hat kein verlässliches Gesicht. Es sind viele Gesichter, in vielen verschachtelten Unternehmen. Der ehemalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sucht seine politische Macht in Vorständen. Er wird sie nie mehr wiederbekommen. Wirtschaft kauft Macht. Der Gewinn wird doch nicht mit Politikern geteilt! Die Politiker werden geteilt und verkauft. Und plötzlich haben Politiker viele Gesichter. Nicht zu fassen!