Strohhalme und Normalität

Trauernde lernen das Leben neu. Todesfälle gleichen immer einer Amputation. Der Tod eines Kindes ist mit Herzinfarkten zu vergleichen. Eltern und Freunde brauchen quasi Stents, damit sich die Venen nicht immer wieder verengen. Ein wunderbarer Organismus verliert einen Teil, der diesen Organismus am Leben hielt, der diesen Organismus begründete. Der Strohhalm ist, dass Hinterbliebene nicht krank sind. Ein blutendes und krampfendes Herz blutet nicht wirklich. Es braucht tatsächlich keinen medizinischen Eingriff. Der fehlende Mensch hinterlässt nicht wirklich eine Wunde, die genäht werden muss. Eine Narbe, die das Gewebe verdichtet, gibt es nicht wirklich. Dieser Strohhalm ist nur ein Strohhalm. Er hilft aber, weil er im Chaos zum Leuchtturm wird. Aus vielen Strohhalmen wird ein neues Normal. Das ist das Wunder, das ein Organismus zeigt. Hinterbliebene Kinder telefonieren über das Kindertelefon mit den Verstorbenen. Es ist ein Strohhalm, der völlig legitim ist. Ehegatten decken den Tisch weiter für den Verstorbenen. Sie löschen den Anrufbeantworter nicht, weil die Stimme des Verstorbenen Leben bekundet. Es sind Strohhalme, die ein Organismus findet und nutzt. Manche Hinterbliebene sortieren sofort den Kleiderschrank des Verstorbenen aus. Sie stellen die Räume der Wohnung neu auf. Das sind Strohhalme, die Hinterbliebene sofort finden. Manchmal werden kleine Altare aufgebaut. Der Organismus, der einen Teil von sich selbst verloren hat, operiert. Es sind Selbstheilungsprozesse, die er in Gang bringt. Wütende Kinder zerlegen ihr Kinderzimmer. Sie werfen alles auf den Boden, köpfen Puppen, zerreißen Bücher. Es sind Strohhalme, die gefunden werden. Kinder operieren wie kleine Homöopathen. Ihr Leiden muss viel schlimmer werden. Es muss aus dem Organismus gebracht werden; es muss also wüten. Erst dann wird das Leiden besser. Verständnis ist ein Strohhalm, der völlig normal ist. Als Randfigur bewundere ich die vielen Organismen, die Methoden entwickeln, die versuchen, die forschen, die studieren, die meditieren, die verzweifeln, die Strohhalme im Chaos finden, um aus dem Chaos…was zu machen? Hier wird das Trauern politisch. Wenn ein Organismus, also Menschen, also Steuerzahler, also Bürger ein politisches Chaos vorfinden, wenn Menschen also nicht in ein von ihnen finanziertes soziales Netz fallen, dann stürzen sie in ein weiteres Chaos, das sie bearbeiten müssen: Rente, Waisenrente, Grundsteuern, neue Altersvorsorge, Therapien, medizinische Betreuung, Schulen, Grundschulen, Wohnraum usw. Sie finden nämlich Menschen in einem Apparat vor, die keine heilsamen Methoden entwickeln, die nicht forschen, suchen, erfinden, kreieren. Was passiert also, wenn ein dynamisches Chaos auf ein kultiviert statisches Chaos trifft? Was passiert dann?