Das Gedächtnis
02/12/19
Trauernde haben mir in 25 Jahren bewiesen, dass der menschliche Kopf ein bahnbrechender "Computer" ist, der sich durch ein gigantisches Gedächtnis auszeichnet. Das individuelle Gedächtnis bestimmt ein Trauergespräch maßgeblich. Die Wertung von gut bis schlecht gibt es nicht. Es gibt ein Gedächtnis. Punkt. Mein eigenes Gedächtnis habe ich mit enorm starken Menschen angereichert, die motivieren konnten, die auch überaus unterhaltsam waren. Über Jahre hinweg versuchte ich, die Menschen im Trauergespräch zu unterhalten und zu motivieren. Ich wollte schlicht verhindern, dass meine Gesprächspartner auf der anderen Seite des Beratungstisches untergingen. Gespräche sind meines Erachtens erst dann wertvoll, wenn aufgeräumte Geschichten aus einem gesicherten Gedächtnis entnommen und gezeigt werden. Die steigende Informationsflut veränderte alles. Heute ist ein Haushalt mit 1 Fernseher, 1 Computer, 1 Mobiltelefon und 1 Spielekonsole bescheiden zu nennen. Millionen Töne, Worte, Bilder, Filme gelangen in ein unbeschützt menschliches Gedächtnis. Erinnerungen werden verschoben. Die Zeit entkoppelt sich. In überaus gesunden Selbstgesprächen suchen Menschen ein Datum im Gedächtnisspeicher, das zu einer Erinnerung passt. Meist führen sie während eines Gespräches Selbstgespräche. Sie sind also voll im Einsatz. Sie sind da. Sie sind intelligent. Sie räumen und sortieren die in Unordnung gebrachten Geschichten. Andernfalls wirkt ein Gespräch sprunghaft, zerfasert und verstellt. Ich traf vor einigen Tagen eine Bekannte, die ich über Jahre nicht gesehen habe. Sie ist etwa 55 Jahre alt. Wir standen in der Nähe meines Geschäftes, es war kalt; und so lud ich sie auf einen Kaffee ein. Sie fragte, ob ich auch etwas Härteres im Geschäft hätte. Ich erinnerte Sie daran, dass ich ein Bestattungsinstitut habe. Sie fand ihre Frage nicht eigenartig, weil sie glaubte, dass man doch sicher auch Trauernden einen Schnaps anbieten könnte, um den Kreislauf in Schwung zu halten. Ich servierte ihr den Prosecco, den mir Geschäftspartner vorzeitig zum Nikolaus schenkten. Sie konnte mir ihren Beruf nicht erklären, der ein Studium voraussetzte, das sie vage umschreiben konnte. Sie wollte nicht über Politik reden, weil sie keine Meinung hatte, gleichermaßen eine Meinung bestätigte, die sie aber nicht in Worte fassen konnte. Plötzlich schreckte sie auf, weil sie ihr Mobiltelefon auf dem Tisch abgelegt hatte: "Ich muss kurz das Handy in die Tasche stecken. Wir werden quasi alle abgehört und morgen bekomme ich auf Youtube dann genau die Themen geliefert, die zu unserem jetzigen Gespräch passen." Ich fand am nächsten Tag keine Filme, die zu dieser eigenwilligen Situation passten. Ich mochte mir das auch nicht vorstellen. Allerdings möchte ich Trauernden einfache Tips* geben, die in der Katastrophe helfen: >>1. Legen sie ein Oktavheft neben ihr Bett und schreiben sie jeden Morgen ihren Traum auf. Sie schlafen noch nicht entspannt, wenn keine Träume kommen. 2. Strecken sie sich, wenn sie morgens aufwachen. Verbieten sie sich das nicht. 3. Öffnen sie die Fenster morgens weit und lüften sie alle Räume. Erst dann gehen sie ins Bad. 4. Putzen sie sich die Zähne mit der linken Hand, wenn sie Rechtshänder sind, mit der rechten Hand, wenn sie Linkshänder sind. 5. Trinken sie gleich im Bad viel Wasser. 6. Machen sie morgens ihr Bett. Schütteln sie Kissen und Decke kräftig aus. 6. Bereiten sie ihr Frühtsück zu. One apple a day keeps the doctor away. 7. Trinken sie einen Kaffee oder einen Tee 8. Während sie ihre Kleidung für das jeweilige Wetter sorgsam auswählen, atmen sie tief ein und aus. 9. Sehen sie niemals lange auf den Asphalt, wenn sie das Haus verlassen haben. Sehen sie nach vorne. 10. Erinnern sie sich 1x täglich daran, dass nur ihre Gedanken ihre Gefühle auslösen können. Kein Mensch wurde je von seinen eigenen Gefühlen überfallen! Jene Menschen, die das Chaos in der Trauer nicht mehr verstehen können, möchte ich um Folgendes bitten: 1. Schminken sie sich morgens mit der linken Hand, wenn sie Rechtshänder sind; mit der rechten Hand, wenn sie Linkshänder sind. 2. Schließen sie Ihr Hemd, binden sie Ihre Krawatte und ihre Schuhe mit der jeweils untrainierten Hand. 3. Stoppen Sie die Zeit und notieren sie die Ergebnisse in einem Oktavheft, das sie im Flur deponieren. Erstellen sie einen Plan-B für jeden Tag. Es könnte sein, dass sie langsamer werden. Wahrscheinlich müssen sie einige Geräte abstellen, die Zeit kosten? (*Tips engl. für Hinweise)