Der Sinn des Lebens
06/10/21
Die ZEIT startet eine Serie über den Sinn des Lebens. Die Redaktion bleibt in der Ich-Form. Es geht also nicht darum, wie Menschen für andere Menschen einen Sinn machen. Ich wusste tatsächlich nicht, dass es eine Sinn-Professorin gibt. Ich stelle nur fest, dass der Sinn, als ewig Konstante, in einem Körper vermutet wird. Redakteure sagen im Kern: "Ja. Wir wissen nun, dass Sinn ewig existent ist. Auch in uns schlummert ein Sinn, den wir nicht zerstören können, der nie ausläuft." Welches Gewicht hat 1 Sinn? 21 Gramm? Wahrscheinlich wird der Sinn wie eine Warze besprochen. Der journalistische Schreibstil wird vermutlich nicht sinnlicher oder sinniger. Die ZEIT möchte heute in einem Trend bleiben. Der Verkauf ist enorm wichtig, die Klicks ebenso. Journalisten müssen Wahrheiten so verkaufen, dass die Auflage nicht gefährdet wird, was den Sinnen, so sie ständig funktionieren, wahrscheinlich nach 40 Jahren Dellen verschaffen wird. Viel sinniger wäre eine Serie mit dem Titel: "Was würde die Gräfin dazu sagen?" Die Süddeutsche Zeitung schreibt über die Pandora-Papers. Ein Krimi über Steuerhinterziehung, Korruption (darf man in Deutschland nicht sagen), Geldwäsche und über involvierte Politiker, die vor Ihrer Tat laut gegen Sünder wetterten. Pandora-Papers werden in den Pandora-Mythos gezogen: Auf Geheiß des Göttervaters Zeus wird Pandora von Hephaistos aus Lehm geschaffen, um Rache für den Diebstahl des Feuers durch Prometheus zu nehmen. Pandora erhält zu diesem Zweck eine Büchse, die alle Übel der Welt sowie die Hoffnung enthält. Journalisten nannten bisher viele Namen aus dem Ausland. Die Pandora-Papers zeigen auch den Namen Tony Blair. Was würde die Gräfin über den Pandora-Mythos schreiben lassen? Immerhin macht dieser Mythos aus Tätern Opfer? Im Luxussegment haben die armen Kriminellen, die stets nur schlimme Phasen haben, den Fluch der Pandora am Hals. Zur Vermeidung von sinnigen Standpunkten, die ein Rechtsstaat haben darf, stellt Journalismus heute merkwürdige Fragen; und die klingen sinngemäß so: Muss man jene Pandora-Verfluchten in ein gemeines Gefängnis stecken? Was kostet das dann? Ist das der Sinn unseres Lebens? Sollten wir nicht lieber Yoga auf einem Berg machen? Sollten wir Tische rücken, um einen Geist zu rufen? Diese Schreibe schadet meinen noch funktionierenden Sinnen zusätzlich. Welches Gehalt bezieht eine Sinn-Professorin? Und wie groß ist der Sinn, den sie in einer Gesellschaft stiftet? Vielleicht gehen Menschen in Deutschland bald über Herdplatten, um ihren Tastsinn zu kontrollieren. Die Kopfhörer im Straßenverkehr blockieren bereits den Gehörsinn. Lautes stört nicht etwa die Sinne. Es reinigt die Sinne, klärt die Gedanken, lässt den bösen Alltag draußen. Gehen die Sinne stiften? Der Schuhmacher John Lobb, geboren 1829, gründete sein Geschäft in London 1849. Er war 20 Jahre alt. Er wollte offenkundig Schuhe mit seinen Händen fertigen, denn bis heute gibt es sein Geschäft, das stets ein Einzelunternehmen blieb. Mr. Lobb gilt als der Schuhmacher der Könige und als der König der Schuhmacher. Bei ihm werden die Füße mit Bändern gemessen, die Modelle bis zur Perfektion gefeilt und das Leder filetiert. Maße werden mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier manifestiert. Die Geschichte seiner Schuhmacherwerkstatt begann mit einem Unfall. John Lobb, Sohn eines Farmers, brach sich das Bein. Nach einer missglückten Operation blieb er behindert. Wie gut, dass er nicht Farmer werden konnte. Er erlernte das Schuhmacherhandwerk. Sein Tastsinn, durch das eigene Unglück mit Informationen gesättigt, angereichert und verfeinert, muss fantastisch gewesen sein, denn sein Geschäft ist bis heute weltberühmt. Er, stets Einzelunternehmer, hat eine sinnvolle Klasse im Handwerk erschaffen. Die Reporter, die sein Geschäft betreten, zeigen eine nervöse Ehrfurcht vor den Meistern. Sie können kaum Fragen stellen, weil ihnen der Fachterminus fehlt. Wow ist eine der unsinnigsten Reaktionen. Die Frage nach dem Preis passt in John Lobbs Werkstatt offenkundig nicht. Es ist jene Frage, die Massenkonsumenten stellen; und die Reporter wollen nicht den Eindruck hinterlassen, dass sie Massenkonsumenten sind. Das Geschäft ist nicht laut. Kein Radio läuft. Kein Gerät funkt unsinnige Töne. Hat John Lobb nach dem Sinn seines Lebens gesucht? Sicher. Er wanderte in jungen Jahren nach Australien zur Goldsuche aus. Dort fertigte er dann aber den Goldsuchern Stiefel mit hohlen Absätzen an, in denen sie ihre Gold-Nuggets aufbewahren konnten. Vielleicht hatte John Lobb sogar einen 6. Sinn. Kühn fertigte er feinste Reitstiefel, legte sie in eine Lederschachtel und sandte sie dem damaligen Prince of Wales in die britische Heimat. Das Glück, dass er ganz woanders suchen musste, machte ihn zum königlichen Hoflieferanten. Ein einfacher Schuhmacher, durch eine misslungene Operation behindert, damals sicher mäßig gebildet, erlangte bereits zu seinen Lebzeiten Weltruhm. Sein Geist wird bis heute fortgeführt. John Lobb nimmt keine Laufschuhe in sein Sortiment. Er verkauft keine Crocks und keine Romikas. Er zieht seine Kundschaft nicht über Chucks an. Er verzichtet freundlich und respektvoll. Die ZEIT legt eine Serie auf. Sie wollen über den Sinn des Lebens und über das Glück schreiben. Sie schreiben sicher auch über den Tod und das Leben. Sicher kommt die Sinn-Professorin zu Wort. Ein Schuhmacher kommt sicher nicht zu Wort. Was sollte ein ungehobelter Schuhmacher für Sinne haben? Schuhmacher stehen sicher nicht im "Testament" der Gräfin. Macht das heute Sinn? Nein. Tony Blair steht in keinster Weise über John Lobb. Er ist weder ehrenwerter noch vorbildlicher. Für Handwerker handelt Mr. Blair völlig sinnfrei.