Störersysteme

Angst machen mir nicht die unterschiedlichen Menschen. Sie alle wurden von der Natur mit feinstem Equipment ausgestattet: Tastsensoren, Sinne, Instinkt, Intuition, freier Wille. Alle Menschen sind per se Wunderwerke, die an ihren eigenen Kreislauf angeschlossen und somit ausbalanciert sind. Die Natur speist den Kreislauf der Menschen; und so können sie sich in Bewegung setzen. Schließlich müssen sie sich ihr Zuhause, die Erde, anschauen. Die Abenteuer der Wunderwerke. Ein Kreislauf, der nicht enden kann. Vollendet. Perfekt. Grandios. Unbeschreiblich. Gigantisch. Atemberaubend. Alles bekannte Zeug stört diesen Grundkreislauf. Apparate. Staatsapparate. Kriege. Banken. Scheine. Währungen. Grenzen. Zölle. Steuern. Macht. Deals. Börsen. Handel. Altes Geld. Neues Geld. Billiges Geld. Marktwirtschaften. Knechtschaften. Korruption. Käufliche Staatsapparate! Narzissmus. Trancparancy. Aussteiger. Eigenläufer. Whistleblower. Das Wunderwerk Mensch schafft sich nicht selbst ab! Störer wollen verzweifelt das Bargeld abschaffen, weil das Wunderwerk Mensch begriffen hat, dass Münzen und Papierscheine ungenießbar handelbare Rohstoffe sind. Der Staatsapparat schafft sich ab. Vor einiger Zeit war ich Teil einer Gerichtsverhandlung am Landgericht. Ein Hausverwalter erstellte kuriose Abrechnungen. Sein Haus wurde in 5 Jahren auf wundersame Weise 700 Quadratmeter größer. Die Richterin sagte dem Hausverwalter: "Sie haben doch sicher keine Lust, das Haus vermessen zu lassen!" Eine Richterin, reich an ungenießbar handelbaren Rohstoffen, unfreundlicher als die Kassiererin bei LIDL, arm an jenen Rohstoffen, ersetzt das BGB durch Lust. Das Haus wurde größer. Der Fall ging in eine nächste neue Runde zum Amtsgericht. Eine freundliche Richterin empfiehlt ein rein schriftliches Verfahren - wegen Überlastung. In einem ganz anderen Fall werden fehlerhafte Gerichtsbeschlüsse nicht unmittelbar aufgehoben. Das Lustprinzip entspricht der politischen Gangart: "Nach unserem Desaster nicht mehr zuständig." Störerspiele sind sinnlos und wollen Sinne rauben. Und deshalb gehen Menschen zurück in ihre eigene Balance, in ihren eigenen Kreislauf. Sie ziehen sich die prasselnden Spitzen selbst aus dem Fleisch. Sie sind eben Wunderwerke.

1 Geschichte 4 Worte

"Ich kann nicht mehr!" Dieser letzte Satz meiner Mutter war nicht schockierend, empörend, verstörend oder traumatisierend. Er war an meine Schwester und mich gerichtet. Dieser Satz war klar, straight und ehrlich. Dieser Satz war lebendig und stolz. Das erste Mal schrieb meine Mutter etwas über sich selbst. Ich habe lange über ihren letzten kurzen Satz nachgedacht. Das erste Mal schrieb sie einem Gegenüber, uns , dass sie etwas nicht mehr konnte. Und dann machte ich mich auf die Suche. Wer oder was konnte meine Mutter in den Tod treiben? Wer konnte ihre Wortstärke verstummen lassen? Was ist ihr passiert? Warum hat sie sich nicht "dagegen" gewehrt? Wer oder was konnte ihre Lebendigkeit, ihre Lebenslust, ihre Schreiblust, ihre Lust auf große Gesellschaften vergiften? Bei einer Suche richtet man sich instinktiv aus. Ich wusste schon früh, woher ich kam. Ich wusste, wer meine Mutter war. Deshalb entwickelte sich wohl meine Zielstrebigkeit. Vor einiger Zeit schrieb Fatma Aydemir im Spiegel die Geschichte von Semra Ertan auf. 1982 kündigte die damals 25-jährige Dichterin und Arbeiterin ihren Suizid an - ihr Protest gegen Rassismus. Sie übergoss sich mit Benzin; dann zündete sie sich selbst an. Arbeiter und Kunst. Arbeiter und Poesie. Diese Kombination allein wird auch heute im Keim erstickt, nicht verlegt. Wer soll Gast-Arbeiter auf Erden sein, wenn Gäste zu den großen Gesellschaften gehören? Ich dachte immer, dass unheimlich intelligente und mächtige Menschen, unheimlich intelligente Ereignisse meine Mutter in den Tod getrieben haben. Das stellte sich schnell als Irrtum heraus. Eine fehlende Intelligenz, die sich durch alle Schichten einer Gesellschaft zog, konnte meine Mutter in den Tod treiben. Sie konnte nicht mehr. Sie konnte die Verblödung nicht mehr ertragen! Die spitzmündig vorgetragen heiteren Witze über Neger, über 3 Chinesen und natürlich über Kümmeltürken, gepaart mit den üblich verklemmt sexistischen Witzen, die Frauen zu Feinden erklärten. Intelligente hätten das sofort bemerkt. Die unveränderte Sprache einer Justiz, die Fehler kultivierte und es auch heute noch schafft, die Worte Güte und Arrest in einen Satz zu bauen. All das erstickte meine Mutter. Dummköpfe haben ihr gesagt, wer sie ist, was sie denkt, was sie meint, wen sie meint. Meine Mutter hat sich ihre Ziele tatsächlich von Dummköpfen wegnehmen lassen! Ein Ziel muss für nachfolgende Generationen also immer klar sein. Ein Ziel kann nur vorne liegen - nie hinten.

Zwischen den Welten Zuhause

Wirklich zwischen den Welten Zuhause war Karl Lagerfeld. Er war der Inbegriff eines Europäers, weil er die Welten und Zwischenwelten kreierte. Er gestaltete diese Welt bereits für uns. "Wer eine Jogginghose trägt - hat die Kontrolle über sein Leben verloren." Ein passendes Intro für eine Trauerkarte. Dieser Ausspruch meint in der Übersetzung auch: "Wer nicht kämpft - hat schon verloren." Karl Lagerfeld war kein 68er im klassischen Sinne. Und doch gehörte er zu den Skandalösen. Ein Hamburger mit getönter Sonnenbrille, der sich frische Luft mit einem Fächer verschaffte. Der Zeichner von Farben und Formen, dem das Stehen keine Probleme bereitete: "Schließlich sitzt der Anzug dann auch besser." Er fand seine Musen; und die schönsten Frauen der Welt nennen ihn freundlich, großzügig, respektvoll. Ein Europäer, der Chanel strahlen ließ, der Anna Piaggi malte, der Claudia Schiffer in Brigitte Bardot verwandelte.
Er war kein Deutscher, der in kugelsicheren Westen und unter Polizeischutz "Mein Kampf" auf Bühnen zeichnete, weil ihn schlicht keine innere Diktatur beherrschte: "Stress ist nicht gut. Ich habe Strass." Er lästerte nicht über Ossis oder über Schwule. Er nannte Frauen auf der Bühne nicht Fotzen - und Schwule nicht Arschficker. Er war kein Deutscher, der sich hinter seiner Kunst verstecken musste, um pöbeln zu dürfen. Er war eben ein Europäer. Er musste seine Migration nicht wie eine Visitenkarte zücken und sich mit einem leeren Label schmücken; und deshalb hätte er Anna Piaggi und Mussolini nie in einem Schachtelsatz verbaut, um Gespräche in einer Talkshow zu gewinnen. Ein schöner Geist wurde von Karl Lagerfeld nicht angerülpst oder angebrüllt. Er zog Menschen an, die sich kleiden mochten - auch bei H&M. Wir sollten uns nicht mehr mit Diktatoren demütigen, die ihre schwitzenden Glatzen auf Bühnen vorführen, sich selbst Kunst nennen, um im Grunde nur ihre Jogginghosen runterziehen zu können. Karl Lagerfeld war kein Exhibitionist. Er war nicht einmal alt. Er war einfach ein Kreateur. In Europa wird er fehlen. Er war ein wahrhaftiges Vorbild.

Loslassen

Ich habe das Loslassen mal ausprobiert. Schließlich muss ich meinen Kunden sagen: "Nach dem Abschied kommt das Loslassen. Das ist schlimm; und doch ist es möglich." Ich bin froh, dass ich meinen Kopf für eine Weile aus der Arbeit gezogen habe. Ich habe das Müssen und das unbedingt Müssen nach dreißig Jahren losgelassen. Ich fühlte mich tatsächlich wie eine Minenarbeiterin, die nach Jahren das Tageslicht erblickt. Das MUSS sprang von meiner Schulter. Durch das sofortige Aussetzen der ständigen Anspannung fiel ich in einer übergroßen Müdigkeit auseinander. Danach sammelte ich mein zerstreutes ICH entspannt zusammen. Seither höre und sehe ich besser. Ich höre, dass Menschen heute über den Tod reden - ohne dabei das Leben zu besprechen. Früher sprachen die Menschen über das Leben - ohne den Tod zu besprechen. Wir reden über Zuwanderung - ohne dabei die Massen zu besprechen, die abwandern, um den Globus wandern. Wir verderben unsere Zeit, ohne die Zeit, die uns bleibt, zu besprechen. Sollen sich 50-jährige Menschen ihre letzten 20 oder 30 Jahre verderben lassen? Nö! Das sollten sie keinesfalls. Jeder Sportler trainiert langsam ab, um die nächste Disziplin trainieren zu können. Ich höre keine Radiomoderatoren, die sagen: "Unsere Männer und Frauen von der BVG tragen die größte Verantwortung. Natürlich stehen ihnen höhere Löhne zu, denn unsere Kinder entwickeln App`s. Sie können keinen Bus fahren. Sie gründen GmbH`s. Sie mieten selbst Wohnungen von "unwissend kleinen" Eigentümern, die sie dann untervermieten. Unsere 24-jährigen Söhne und Töchter haften bei einer Pleite nur mit dem Stammkapital, und die vielen kleinen und unwissenden Eigentümer müssen den Gerichtsvollzieher nicht bemühen, denn sie werden niemals einen Titel gegen Untervermieter erwirken können." Ich lese Lobeshymnen in der renommierten Presse - geschrieben von 50-jährigen Teenagern. Natürlich sind sie native speakers of American English. Ich wollte Berlin aufbauen. Ich würde mir wünschen, dass Kleingärtner politisch animiert werden, Obst und Gemüse in die verarmten Kindergärten zu bringen. Der Bürgermeister verkauft auch die Reserven und Medien unterstützen ihn dabei. Ich höre social; und so weiß ich, dass Busfahrer mehr Geld verdienen müssen, um Wohnungen für 2.000 Euro anmieten zu können. Da sie bald zahlungsunfähig sein werden, müssen sie sich nicht fürchten, denn kein Gerichtsvollzieher hat Titel gegen Untermieter, wenn der Mieter eines Eigentümers in die Pleite geht. Wohin gehen Witwer oder Witwen? Wohin gehen Frührentner, Studenten, Handwerker? Sie wandern massenweise aus - in alle Himmelsrichtungen. Sie alle sind glücklicher, zufriedener. Sie alle machten aus einer Not eine Tugend. Sie alle ließen dieses MUSS los; und dann begann ihr Abenteuer. Nur ich bleibe hier. Euch kann man einfach nicht alleine lassen.

Die Geister folgen jedem Ruf

Wahrscheinlich schreibe ich nur, weil ich Angst habe. Andere Menschen singen Lieder. Wieder andere Menschen lassen den ganzen Tag den Fernseher laufen, um eine innere Ruhe herstellen zu können. So viele Menschen glauben fest an einen Dritten Weltkrieg…und das lässt mich nicht gut schlafen. Heute sagte eine Kundin so sinnig: "Menschen sterben - überall auf der ganzen Welt - und Medien berichten darüber, dass Frau Merkel ihr Facebook-Konto löschte." Ich fürchte mich vor den schleichenden Rechten, die Bücher verlegen; vor Müttern, die Pazifismus öffentlich als "asozial im Wortsinne" diffamieren dürfen, die Kritiker von Schlachten als "Individuen auf Gemeinschaftszerstörungsdroge" beschreiben. Ich fürchte mich vor Frauen, die über einen Nationalmasochismus sprechen dürfen. Ich fürchte mich vor den Verhaltenslehren der Kälte, die mit Worten beginnen. Schuldkult ist so ein Wort. Natürlich gehört Caroline Sommerfeld nicht zur Mischpoke. Sie wird in der ZEIT, in der Süddeutschen, in der FAZ analysiert und besprochen. Ihr Gatte ist kein Handwerker, den man in den Medien als Pfuscher entlarven und verlachen kann. Ihr Gatte redet nicht in 88-Formeln. Ihr Gatte ist Helmut Lethen. Sie, Jahrgang 1975, ist gegen das Frauenwahlrecht. Sie schrieb eine "Diss" über Immanuel Kant: "Wie moralisch werden?" Er, Jahrgang 1939, schrieb über die Vergangenheit. Seine Generation wurde leider nie analysiert. Er schrieb über den "Sound der Väter." Seine Gattin ist schlicht seine Mutter. Die gesellt ihren Gatten, genannt H., zu den Lemmingen. Er hat den "Sound der Mütter" ausgelassen. Den Geist hat er gerufen. Er hätte über den Sound der Flower-Power-Generation schreiben sollen. Er hätte uns in die Blumen stürzen müssen. Wie Lemminge wären wir gefolgt. Gerne sogar. Natürlich empfindet seine Generation eine große Schuld. Kinder fühlen sich immer schuldig. Natürlich ist es kein Kult. Schließlich hat seine Elterngeneration den größten Mist der Geschichte geschrieben, den seine Gattin nur auf seine Kosten kultivieren kann, unter seinem Namen wiederholen kann. Für diese Geschichte, die jeden Psychologiestudenten und jede Handwerkerfamilie unterfordert, biegen seriöse Medien die Balken. Sie steuern in den Tod ohne Bestattung.

Geisterkatzen

In meinem Beruf biegen sich die Balken. Und diese Balken werden brechen, wenn sich die Lügen weiter auftürmen. Ich stelle seit Jahren die einfachste aller Fragen: "Wie geht es Ihnen?" Die Antwort ist immer gleich: "Mir geht es gut." Es gibt eine Variante dieser Antwort: "Den Umständen entsprechend." Jene Menschen, die gerne die Wahrheit sagen möchten, antworten gereizt: "Na, wie soll es mir in so einer Situation wohl gehen?!" Wenige Menschen können heute schlichte und einfache Antworten geben: "Mir geht es sehr schlecht."
Wir fallen zurück in uralte Erziehungsmuster, in die preußische Härte und Kälte. Die Ernte der 68er-Bewegung wird vernichtet - wie Unkraut behandelt. Vor knapp einem Jahr hatte ich einer Kundin eine Tagesklinik empfohlen. Die Kontakte zu ausgewählten Nachversorgern gehören zu meinem Beruf. Die Frau fand einen Anwalt, der all meine Leistungen anzweifelte. Er strickte ein Grundkonstrukt, das auf Freiheitsberaubung basierte. Später stellte sich heraus, dass die Vollmachten, die jene Frau vorlegte, gefälscht waren. Der Anwalt demontierte Berufserfahrung, Bestattungsgesetz, Hygienegesetz. Er benutzte die alte preußische Methode, die Gefühle durch Geld zu reparieren versucht. Passende Vorbilder sind die Großbanken. Die Lüge fliegt auf. Sie rufen den britischen Schatzmeister oder die Mutti: "Böse demokratische Senatoren wollen unsere Freiheit beschneiden." Bankiers werden schlicht aus der Haftstrafe gekauft. Die Lüge ist so mächtig geworden, dass sie Staatsoberhäupter erpressen kann. Sie sorgt heute für Arbeitsplätze. Darüber muss man nachdenken, bevor man ernsthaft behauptet, dass Class Relotius im Alleingang gegen die Interessen irgendwelcher Redaktionen handelte. Er war das Preispferdchen! Er brachte "Renommee" in die verstaubten Stuben. Auf dem Rummel muss es huten und tuten. Es muss glitzern und flackern. Moreno war doch nur langweilig und alt. Er war neidisch auf den jungen Claas. Der Relotius! Der kann sogar Balken biegen!" Die Lügen verwandeln Menschen in Geisterkatzen. Mit der schwindenden Wahrhaftigkeit verschwinden sie selbst. Das ist der Eintrittspreis, der Zaubertrick, die unglaublich "spannende" Magie. Menschen trauen sich selbst nicht mehr über den Weg, weil sie ihre eigenen Wege zu sabotieren gelernt haben. Die schlichte Wahrheit wird als Lüge verlacht. Ein Nein wird ein unterstelltes Ja. Deutschland ist reich. Wir schaffen das. Mir geht es gut. Klingt das nach Wahrheit? Es ist unfreiwillig komisch, einen Rummel und seine Rummelbudenbesitzer von draußen zu betrachten, wenn man sich selbst den Eintritt nicht leisten kann - oder möchte.

Die Schneekatzen

Mit größter Hingabe wird Claas Relotius lebendig eingeäschert. Diese Härte. Diese Sorgfalt. Diese ausgesuchten Stilmittel. Die Wahl der letzten Worte. Der Spott. Der Hohn. Mit ekelhaft unvergesslicher Ästhetik wird er öffentlich hingerichtet. Claas Relotius. Ist er endlich tot? Hat jemand die Fakten geprüft? Er war kein Journalist in Boots und Karohemd. Er trug keine zerkratzte Sonnenbrille. Sein Haar war wohlgelegt. Seine Kleidung war genau aufeinander abgestimmt. Lebt er noch? Hat er noch einen Puls? Der Claas wurde 1985 geboren. Er ist ein Zweite Welt-Kind in der Ersten Welt, das über die Dritte Welt schreiben soll. Er lebt in der Ersten Welt, die real und faktisch sein möchte. Er wuchs auch in der Zweiten Welt auf, die virtuell und schwerelos sein möchte. Zwei kontrollierte Standorte führen in die Dritte Welt, die arm bleiben muss. Andernfalls müsste die Erste Welt Waffen an ihre eigenen Kinder verkaufen. Das geht natürlich nicht! Wir töten schließlich nicht unsere eigenen….; nur den Claas Relotius. Der ist erwachsen genug. Sein Co-Kollege musste recherchieren. >>Drei, vier Wochen lang geht Moreno durch die Hölle, weil Kolleginnen und Vorgesetzte in Hamburg seine Vorwürfe anfangs gar nicht glauben können.<< Wurde ein Faktencheck gemacht? Wie sieht es in der bisher unbekannten Hölle aus? Wurde das Misstrauen der Kollegen gecheckt? Claas Relotius ist real. Wir haben ihm alle Werkzeuge einer leichten, virtuellen Welt zur Verfügung gestellt. Wir haben ihm sogar alle kriminellen Energien zur Verfügung gestellt. Die Träume eines Walter Mitty haben wir in der Ersten Welt behalten. Claas Relotius musste mit seinen feinen Schuhen keine Abenteuerreisen begehen. Er musste keine Fotos suchen. Er wollte keine Schneekatzen aufspüren. Wir haben ihm jede Geschichte serviert und eingespeist. Dafür sollte man ihn nicht töten. Wir sollten Menschen seiner Generation endlich zum Leben erwecken. Claas Relotius hat viele gute Geschichten erzählt - die nicht immer stimmten, die manipuliert waren. Das wiegt im Journalismus natürlich schwer.

Die Fassung nicht verlieren

"Pardon, Frau Marschner. Sie können das nicht wissen. Wir übergeben in diesen Tagen den Staatsapparat in die Hände der Wirtschaft." So müssten es respektierte, freie und geschätzte Mitarbeiter, die sich in den Dienst des Staates gestellt haben, oft auch einen Eid schwören, wahrheitsgemäß äußern dürfen. Wir sollen immer die Wahrheit sagen. Die kann aber kein Mensch ertragen. "Frau Chebli trägt eine Rolex. Empört Euch." In Wahrheit ist sie Diplom-Politologin und der Bürgermeister hat einen Realschulabschluss. Findet sich die akademisch reflektierte Welt damit irgendwie tolerant? Ich interessiere mich gerade für öffentliche Ausschreibungen und versuche herauszufinden, warum Bestatter (plural) in Krankenhäusern von großen Berufsvereinigungen als "üblich" bezeichnet werden. Die Vergabekammer Berlin schrieb mir, dass sie für die öffentlichen Vergaben (BER usw.) zuständig ist. Allerdings prüft die Vergabekammer nicht die Rechtmäßigkeit. Ich erhielt von einem Unternehmen einen Unterlassungsbeschluss. Unklar ist noch, was genau ich unterlassen soll. Die Gegenseite schrieb, dass ich ein kleines Bestattungsinstitut betreibe. Da wir eine Faktengesellschaft sind, die über Lügen klagt, kaufe ich ein Handelsregister. Die Firma gehört zu einer Aktiengesellschaft und macht Millionenumsätze. Ich, tatsächlich mit kleinem Bestattungsinstitut, frage mich: "Zieht die Vergabekammer Berlin Handelsregister, wenn sich Firmen, die zu Aktiengesellschaften gehören, an öffentlichen Ausschreibungen beteiligen? Oder zieht das Kartellamt ein Handelsregister? Wer verhindert eigentlich wie Monopole? Oder wurde das GWB abgeschafft?" Wenn Politik der Wirtschaft überlassen wird, dann muss ich tätig werden, denn ich gehöre in den Wirtschaftsbereich! Ich stolpere im Schriftverkehr mit der Gegenseite über einen sich wiederholenden Satz: "Wir werden die Klage bei diesem Gericht erheben." Warum erwähnt sie das? Es gibt in diesem Fall nur das Landgericht. Dann komme ich darauf, dass die Handelskammer des Landgerichtes gemeint ist. Meine Verwunderung bleibt und so suche ich im Internet die Handelskammer. Ich finde die Vereinigung der Handelsrichter: "Wirtschaftskompetenz für die Justiz." Ich bin wie vom Donner gerührt. Menschen aus der Wirtschaft, begutachtet von der IHK, werden Handelsrichter und vereinigen sich seit vielen Jahren. Das erste Mal verliere ich den Glauben an unseren Staatsapparat; ich fühle mich belogen - und meine Gefühle kann man in diesem Fall nicht widerlegen. Fassungslos lese ich den ausgestellten Brief eines Buchändlers und (!) Handelsrichters, der 1954 zwei Mitstreitern einen Brief schreibt, diese Vereinigung wünscht, keine Pläne hat, die Finanzpolitik ins Visier nimmt - und doch nur die Robe tragen soll. Auf ehrenamtliche Handelsrichter, die neben einem echten Richter, einer echten Richterin arbeiten, wurde ich nie vorbereitet. Nach einiger Zeit stellen sich mir die Schockfragen: "Wie lange studiert und arbeitet eine Frau, um Richterin am Landgericht zu werden? Wie viele rote Ampeln musste sie meiden? Welche Lebenssituationen musste sie sich verbieten? Wie hart muss eine angehende Richterin ihre Kinder erziehen? Und dann könnte ein Buchhändler die Universität überspringen, quer einsteigen und die Richterrobe tragen?" Diese Richterrobe ist kein Kleidungsstück. Sie ist das Synonym für die Integrität eines an die Wahrheit gebundenen demokratischen Staates. Richter und Richterinnen tragen diese Robe auch dann, wenn sie sie nicht tragen. Sie haben das verlässliche Gesicht. Wirtschaftskompetenz hat kein verlässliches Gesicht. Es sind viele Gesichter, in vielen verschachtelten Unternehmen. Der ehemalige Bundeskanzler, Gerhard Schröder, sucht seine politische Macht in Vorständen. Er wird sie nie mehr wiederbekommen. Wirtschaft kauft Macht. Der Gewinn wird doch nicht mit Politikern geteilt! Die Politiker werden geteilt und verkauft. Und plötzlich haben Politiker viele Gesichter. Nicht zu fassen!