Die Triage und die multimorbide Gesellschaft

Einst kamen die jungen Recken nach Berlin. Sie leisteten ein soziales Jahr. Sie arbeiteten mit behinderten Menschen - klein und groß - oder mit alten Menschen. Sie konnten ihrem Land nicht an der Waffe dienen. Sie wollten keine Waffen tragen. Sie wollten nicht mit Waffen auf Menschen zielen. Sie konnten einfach keine Menschen töten. Sie hatten nur einen Namen; ihren Namen. Sie hatten nicht viele Identitäten. Berlin hat eine äußerst lange und extrem verwurzelt friedliche Tradition. Waffenverbot! Fast alle Menschen waren extremste Euthanasie-Gegner. Das schöne Sterben, wie es die Griechen überlieferten und wie es die Schweiz praktiziert, galt in Deutschland noch bis ins Jahr 2000 als ein Euphemismus, als eine Tarnbezeichnung für die systemischen Behinderten- und Krankenmorde in der Zeit des Nationalsozialismus. Aus der griechischen Euthanasie wurde die deutsche "Rassenhygiene". Inge Meysel tourte als einzige deutsche Dame durch die Talkshows und warb als Vorbild für einen schnellen Tod per Giftkapsel, um dem Siechtum zu entkommen. "Okay! Mutter Courage darf das!", dachten sich die Deutschen. Frau Meysel wurde 94 Jahre alt. Sie starb in ihrer Villa bei Hamburg. Ihr persönlicher Pfleger verkündete 2004 diskret ihren Tod. Punkt. Am 31. März 2020 schrieb das Ärzteblatt, also nicht die Handwerkskammer, zum ersten Mal über eine Triage. Die OP-Masken waren gerade erhältlich. Die Tücher vor dem Mund waren sodann verboten. Schilder und Desinfektionsmittel gab es rationiert. Die Toilettenpapier-Fraktion in Deutschland hatte sich wieder leicht beruhigt. Triage. Das heißt sortieren, auslesen, aussuchen. Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), ein Zusammenschluss aus sieben medizinischen Fachgesellschaften, gab einen Leitfaden für die sogenannte Triage heraus. Für Menschen mit Behinderung ist das ein Schock, denn in diesen Triage-Empfehlungen wird die Clinical Frailty Scale (CFS), eine Gebrechlichkeitsskala herangezogen. Diese ist eine umstrittene Methodik, um die Gebrechlichkeit und damit Anfälligkeit von Menschen ab 65 Jahren vom äußerlichen Erscheinungsbild abzuleiten. In dieser werden Patienten - ihrem äußerlichen Erscheinungsbild nach - in verschiedene Kategorien sortiert. Diese Kategorien sind dann Kriterien zur Priorisierung von Patienten. Insgesamt soll durch verschiedene Kriterien eine angenommene klinische Erfolgsaussicht für den einzelnen Patienten vorhergesagt werden. Der daraus resultierende Wert entscheidet darüber, wer lebensrettende Behandlungen erhält und wer nicht. Es geht also nicht um eine best choice-Entscheidung, sondern vielmehr um den Verzicht auf Behandlung derer, bei denen nur eine geringere Erfolgsaussicht durch einen völlig unzulänglichen und diskriminierenden Katalog angenommen wird. Behinderte Menschen gelten in der Skala allein durch “Abhängigkeit” von anderen, Unterstützungsbedarf, Nutzung von Gehhilfen, Rollstühlen etc als gebrechlich! Das Ärzteblatt schrieb im März 2020: "Die Aufstellung von Algorithmen, die durch vorherbestimmte Kriterien eine Abwägung zwischen zwei Leben beziehungsweise deren Überlebensaussichten trifft, sei zudem mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Auch den Fachgesellschaften und dem Deutschen Ethik­rat sei dies bewusst. „Trotzdem entschieden sich die Fachgesellschaften dafür einen solchen Algorithmus zu erstellen“, kritisiert AbilityWatch. Wie der Ethikrat richtig beschrieben habe, sei dem Staat eine Abwägung Leben gegen Le­ben verfassungsrechtlich verboten. Dies schließe das Aufstellen von Kriterien und Em­pfeh­lungen für Abwägungen Dritter ein." Der Landkreis und das Klinikum Tuttlingen senden im Jahr 2021 ihre Sensibilisierung an Einrichtungen der Behinderten- und Altenhilfe. Die Caritas, größter Pflegedienst, ist völlig entsetzt. Dann gibt es eine Stellungnahme. Man bittet um eine differenzierte Sichtweise, weil es um eine multimorbide Gesellschaft geht. Im Kern geht es um die Frage: Ist schwerstpflegebedürftigen oder schwersterkrankten Menschen, bei denen der Sterbeprozess gegebenenfalls bereits eingeleitet ist, eine intensivmedizinische Behandlung, insbesondere eine invasive Beatmung oder die Inanspruchnahme einer Herz-Lungen-Maschine, zuzumuten? Die Abwägung ist verfassungsrechtlich verboten. Tuttlingen schreibt: "Es ist nicht zielführend, die Verantwortung allein auf das Gesundheitswesen abzuschieben (das wir bezahlen) und mit Grundrechten auf medizinische Versorgung zu argumentieren. (Wir sollen die Grundrechte der Kranken und Behinderten vergessen?) Daher können wir die Kritik eines großen Trägers im Landkreis nicht ganz nachvollziehen. Von allen anderen Einrichtungen haben wir diese Vorwürfe nicht erfahren." Die Abwägung ist verfassungsrechtlich noch immer verboten, auch das typisch deutsche Aufgruppieren von anderen Einrichtungen, die keine Vorwürfe gemacht haben. Multimorbide Gesellschaft! Sortieren! Auswählen! Ich habe nur einen einzigen Namen in diesem Leben. Ich habe keine Pseudonyme und auch keine weiteren Identitäten. Was kann ich tun - damit mein Name nicht in diesen Schmutz gezogen wird?