Ungebetene Gäste

Im Laufe meiner 30-jährigen Berufserfahrung habe ich selbstverständlich ausschließlich Hinterbliebene betreut, die wussten, dass ein Abschiednehmen wichtig ist, die wussten, dass eine Bestattung auch heilig ist. Und genau aus diesem Grund hatten sie stets große Schwierigkeiten, den toxischen Teil einer Familie von der Zeremonie auszuschließen. Sie hatten Probleme, jene Freunde, die nie Freunde waren, nicht zur Trauerfeier einzuladen. Bevor mein eigener Vater verstarb - wir hatten lange keinen Kontakt - kreisten bereits seine Geschwister über seinem Erbe. Wir Kinder störten ihren Rundflug, denn das Erbrecht stellt die Kinder vor die Geschwister eines unverheirateten Erblassers. In dem Fall lief das Gift in "freundlichen" Dosen aus dem Telefon. Absurde Angebote wurden unterbreitet. Ich wunderte mich darüber, dass mein Vater Geschwister hatte, die weder ihn noch seine Kinder einschätzen konnten. Sie fanden sich ungemein stilvoll und ehrfürchtig. Ich fand, dass mein Vater völlig falsche Geschwister hatte. Das wusste er selbst wohl auch, denn er wählte einen langjährigen Freund aus, der die Dinge nach seinem Tod in Gang bringen sollte. Dieser nette Freund, der das volle Vertrauen meines Vaters genossen hatte, übersandte mir einen vorbereiteten Abschiedsbrief von ihm. Zwischen den Zeilen las ich, dass sein Haus nach seinem Tod ein leeres und freudloses Haus sein würde. Ich las, dass in seinem Grab nur die Hülle eines Mannes liegen würde. Ich wusste, dass er meine verstorbene Mutter oft in anderen Frauen suchte - und scheiterte. Seine geistige Reise führte ihn, unmittelbar nach seinem Tod, direkt zu ihr. Ich muss es wissen. Ich bin seine Tochter. Ich lehnte das Erbe ab. Ich erfragte weder den Beerdigungstermin noch den Ort seiner von ihm vorzeitig geplanten Bestattung. Ich fühlte mich sofort befreit, denn er war befreit. Natürlich hätte ich mich auf das Erbe einlassen können. Manche nennen mich dumm. Damit hätte ich aber das ganze Gift seiner Geschwister in mein Haus fließen lassen müssen. Ich hätte sie buchstäblich am Hals gehabt. Das ist kein Geld der Welt wert. Ich muss es wissen, denn ich bin die Tochter meiner Mutter! Geld und Erbschaften sind pure Power. Sie können Erben natürlich ins Glück bringen. Sie können aber auch Unglück bringen, Zwanghaftigkeiten befördern, auf endlose Streitwege führen. Sie können den eigentlichen Weg verstopfen. Mein Vater war ein Autodidakt. Er spielte Gitarre, Akordeon, Klavier und Orgel. Er wollte keine Lehrer, keine Schule. Er interpretierte Religion für sich persönlich um, so, dass er damit leben konnte. Er strich quasi jene Passagen, die seinen Stolz untergraben konnten. Sie machten ihn nur zynisch. Er komponierte und dirigierte Religion. Er verwandelte fremde moralische Finger in einen eigenen Taktstock. Es ging ihm nicht darum, dass andere Menschen ihn und seine Art von Humor verstanden. In seiner Zeit war er ein Rebell. Er lehnte die Moral ab, die kritikunfähig machte, die keine Helden beförderte. Er lehnte jenen tristen Alltag ab, der ihn im Stadium eines Kindes hielt. Er war kein Gegenstand, den man abstaubte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Kein Mensch sollte ungebetene Gäste zur Trauerfeier einladen. Früher machte man das so. Da musste man einfach durch. Heute, nach dem Durchbruch der Emanzipation und der legitimierten Psychoanalyse sollte man ungebetene Gäste nie einladen. Menschen sollten Abschiedszeremonien meiden, wenn die Gäste toxisch sind. Sie vergiften jeden Abschied. Das haben sie sich zur Aufgabe gemacht.