Geschichten und Geschichte

In diesem Land kann kaum ein Mensch gute Geschichten erzählen, die stimmig sind, die rund sind, die durchdacht sind. Wer soll dann die Trauerreden halten? Wer wird schlüssige Krimis schreiben. Journalismus ist eindeutig in den Stilnoten nach unten gerutscht. Fragen werden nicht gestellt. Echte Betroffenheit entfaltet sich nicht. Selbst Zeugenaussagen klingen nicht selten wie Regieanweisungen. Vor einigen Jahren roch es, spät am Abend, im Hof nach Rauch. Ich bemerkte das erst, als ich auf meinen Balkon ging. Es roch nach einem Brand. Ich konnte den Rauch natürlich nicht lokalisieren; also ging ich zunächst mit dem Feuerlöscher in den Keller. Dort brannte nichts. Ich ging wieder auf meinen Balkon und sah einen Bewohner im Hof, dessen Leben mir bis heute völlig unbekannt ist, weil ich niemanden ausforsche. Er streckte seine Nase in die Luft. Er hatte kein Aufnahmegerät dabei, um Tonaufnahmen zu machen. Er beschuldigte mich nicht. Er bezichtigte mich in keiner Weise. Er zeigte keine psychotischen Tendenzen. Ein gemeinsamer Austausch war also gegeben. Da er in den oberen Geschossen lebt, fragte ich ihn: "Sind die Gerüche oben stärker gewesen?" Er bejahte und war etwas beruhigter. Da wir kein Feuer entdecken konnten, verabschiedeten wir uns leicht ratlos. Ich ging in mein Geschäft. In meinen Räumen roch es nicht brandig. Am nächsten Tag kam die Meldung im Radio, dass es in Brandenburg einen furchtbaren Brand gab. Sollte ich heute dazu eine Zeugenaussage machen, bräuchte ich keine Regieanweisung. Den Mann und seine seelische Verfassung könnte ich nicht beschreiben. Eine manipulierte Zeugenaussage würde so klingen: "Ich war Kundin bei Frau Marschner. Wir standen im Bereich der Büroküche; und plötzlich zog ein unbekannter Geruch ins Bestattungsinstitut. Ich weiß das deshalb so genau, weil der Frühling fast nur kalte Tage hatte und wir die Beratung in Daunenjacken bei Minusgraden durchführten. Frau Marschner ging sodann auf ihre Büroterrasse zum Hof. Wir konnten erst nichts sehen. Und so ging Frau Marschner in den dunklen Hof. Dort entdeckte sie den Mann, den sie ganz lieb ansprach. Wir machten Tonaufnahmen, weil er, laut Regieanweisung, der Brandstifter war." Derartige "Geschichten" gibt es leider tonnenweise. Der Terminus "er-sie-es-weiß es deshalb so genau, weil…", hat bereits das britische Königshaus erreicht. Der Prinz erinnerte sich auch sehr genau, weil er zur Tatzeit eine Pizza bestellt hatte. Die erste Pizzabestellung vergisst kein Mensch! (?) Es gibt nationale Probleme mit diesen stümperhaften Regieanweisungen, denn genau mit dieser Masche wird Geschichte umgeschrieben. Unnötig zu erwähnen, dass die Manipulation von mit Echtheit gefüllten persönlichen Geschichten dazu führt, dass Menschen am Ende keine klaren Sätze mehr bilden können. Schon heute können Politiker keine echten Reden halten. Schon heute ist der Beruf der Trauerredner vom Aussterben bedroht. Und damit geht natürlich auch die jüngere Geschichte, gefüllt mit wunderbaren Protagonisten, den Bach hinunter.