Vintage Träume

In meinem Beruf als Bestatterin habe ich alles über Glaubwürdigkeit gelernt. In diesem Wort liegt die wahre Würde, die aus Edelmut gemacht ist. Es liegt unter der Würde eines guten Redners, einer guten Rednerin, eine Schmierenkomödie an einem Rednerpult zu inszenieren. Trauergäste würden kein Wort glauben, kein Wort in sich aufnehmen. Glaubwürdige Menschen heucheln keine Tränen und keine Trauer, wenn sie wütend sind. Gleichwohl unterdrücken Menschen nicht ihre Tränen, wenn der Kummer sie verschlingt. Eine Mutter würde beim Tode ihres Kindes nie ihre Schreie unterdrücken. Glaubwürdigkeit meint nicht, dass Menschen gefallen wollen. Ich treffe Menschen ausschließlich in Ausnahmesituationen an. Auch das Schweigen gehört zur Glaubwürdigkeit eines Menschen - wenn die Worte verschwinden, jeder Buchstabe in einer inneren Lawine wegrutscht, in ein Durcheinandertal aus Buchstaben fällt, die keinen Sinn ergeben. Man sucht Gegenwärtigkeit und findet die zunächst jüngere Vergangenheit. Ich wundere mich stets, dass Medien hochnäsig eine Romantik unterstellen, wenn Menschen sich in der Vergangenheit umschauen. Eine junge reiselustige Generation ist durch unzählige Buchstaben-Täler gewandert. Sie fanden Schürzen, Kännchen, Regale, Nähkästchen, Kleidungsstücke, Uhren, Bilderrahmen, Möbel, alte VW-Busse, Bonanza-Fahrräder, Taschen, Reklameschilder, unendlich viele Bücher. Sie sind ganz leise und unbemerkt durch diese Täler gegangen. Sie brachten sogar die Einmachgläser in die Gegenwart. Journalisten bemerken es bis heute nicht, dass Millionen Vintage-Träumer durch Täler wandern. Sie suchen nie ein Land. Das wäre völlig absurd, denn diese Täler haben logischerweise keine Grenzgebiete. Sie suchen Glaubwürdigkeit. Vielleicht kann also jemand Herrn Olaf Scholz sagen, dass sein gleichgültig reines Ablesen aus fremden Skripten keine Glaubwürdigkeit vermittelt. Das Schicksal der Oberflächlichkeit teilt er übrigens mit der US-Vizepräsidentin Kamala Harris, die, als Staatsanwältin noch weit über seiner juristischen Kompetenz stehend, in der politischen Arena komplett versagt. Er liest fremde Skripte, sie lacht zu viel, auch dann, wenn sie ihr Fehlen an US-Genzen damit begründet, dass sie bisher ebenfalls noch nicht in Europa war. Vielleicht könnte ihr Christine Lagarde mit ihren eigenen Worten begegnen: "Don`t come. Don't come." Herr Steinmeier redet über die Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Er wirkt wenig glaubwürdig. Herr Steinmeier selbst weiß wahrscheinlich nicht einmal mehr, wer Herr Kaminer ist, wer der derzeitige Star des Bolschoi-Theaters ist. Ganz sicher kennt er keine Details über den Petersburger Dialog. Er kennt sicher nicht den Todestag von Rudolf Nurejew, denn mit Herrn Nawalny konnte man endlich ganz Russland hassen. DIE Russen! Damit beschreiben Deutsche 144 Millionen Menschen. Es ist also wenig glaubwürdig, wenn Politiker DIE Amerikaner als Freunde bezeichnen. Denn damit inkludieren sie die Amokläufer, die durch legalen Waffenbesitz agieren. Weiß er Steinmeier, wie viele Erstklässler im Jahr 2012 an der Sandy-Hook-Schule durch eine AR-15 gestorben sind? Schließlich sind DIE Amerikaner seine Freunde. Andernfalls wird er doch wenigstens DEN ukrainischen Philosophen Jurij Ihorewytsch Andruchowytsch kennen. Er wird doch sicher im Tal ein einziges Zitat von ihm gefunden haben, um Glaubwürdigkeit transportieren zu können. Immerhin spricht er zu einer multikulturellen Gesellschaft, die übersetzte Bücher liest. Herr Steinmeier hat keine Haltung in der Moderne finden können. Als deutscher Sozialdemokrat hat er nie eine glaubwürdige Friedenspolitik angeschoben. Russland trägt sicher auch dafür die Verantwortung. Ich höre seit 30 Jahren exzellente Redner und Rednerinnen. Sie haben Patina, Pathos, Drive, Spannungsbögen, Tiefen, Heiterkeit, Wärme, Feuer, Liebe, Mut zu Pausen. Sie haben Handlungsstränge im Griff. Sie schreiben ihre Reden höchstpersönlich. Ich stelle fest: Es gibt heute keine politischen Redner*innen! Nicht eine Partei zieht an, zieht mit, schiebt nach vorne, füllt mit Energie, entfacht eine Idee. Die Glaubwürdigkeit wird verzweifelt gesucht.