Selbstkritik

Trauernde - die in mein Bestattungsinstitut kommen - sind formvollendet selbstkritisch. Sie stellen Fragen, konkret und hypothetisch. Sie überprüfen, sie lassen Revue passieren, sie denken. Sie sind organisiert und reflektiert. Sie planen, sie betreiben Schadensbegrenzung für Kinder und sie verhandeln mit Behörden. Sie ruhen wenig. Frauen. Frauen, mit denen ich arbeite, Kundinnen, bei der Kripo beschäftigt, beim Standesamt, für Konsulate tätig, sind präzise, strukturiert und eloquent. Ihre Gespräche haben Einleitungen, Hauptteile und Schlussteile. Frauen, die mein Privatleben bereichern, werden von neuen Geschichtsschreibern abgelegt: Die französische Innenarchitektin Andrée Putman. Die Sängerin Marianne Faithful. Die Dichterin Mascha Kaléko. Anne Klein, DIE Juristin und einstige parteilose Senatorin Berlins. die Grafikerin und Künstlerin Jeanne Mammen. Die Journalistin Ulrike Meinhof. Die Künstlerin Frida Kahlo, die schrieb: "Ich hoffe, froh zu sterben, und ich hoffe, niemals wiederzukommen." Die Fliegerin Elly Beinhorn-Rosemeyer. Die Theoretikerin Hannah Arendt. Warum sind Frauen heute politisch unbeliebt? Über die Hälfte der Bevölkerung möchte jene Frauen nicht mehr in der Politik wissen, die nur aufgestellt werden, weil sie Frauen sind. Noch vor 40 Jahren reichte genau diese Begründung. Gleichermaßen ist es diesem Teil der Bevölkerung natürlich egal, dass Männer in politische Ämter kommen, weil sie Männer sind, nicht weil sie Könner sind. Das ist bereits Zeichen für eine aggressive Gesellschaftsform. Frauen müssen wieder gefallen. Sie müssen lieb sein. Googles Bewertungsportal darf man aggressiv gespalten nennen. Gestern rief ein Mitarbeiter von Google an, der kritische Einträge löschen wollte. Ich bestand darauf, dass die Einträge bleiben! Sie zeigen genau auf, wie und von wem Trauernde gestört werden, was krank zu nennen ist. Wichtig ist ebenfalls, dass ein Spalterportal Brände legt, um für das Löschen bezahlt zu werden. MEINE Kunden sind keine agressiven Borderliner. Ich selbst (be)werte weder meine Kunden noch meine Geschäftspartner. Das ist kein Gottesgeschenk. Das ist einer sehr guten Erziehung, einer guten Ausbildung und extrem guten Fortbildungen zu verdanken. Gestern unterhielt ich mich mit einem jungen Wahlkampfhelfer der SPD, der auf der Straße Flyer verteilte. Er kam auf mich zu und wir unterhielten uns. Ich erklärte ihm, dass ich die Stadtführung der letzten Jahre extrem aggressiv finde, in Teilen bedenklich neurotisch und narzisstisch. Ich erklärte ihm, dass eine gesunde Stadtführung zum Beispiel das Finanzamt instruieren kann, eigenständig Fristen zu verlängern, um Angehörige von verstorbenen Unternehmern zu entlasten. Eine Beileidsbekundung sollte keineswegs fehlen. Wütend müsste ein Apparat machen, der Verstorbenen Wahlunterlagen überreichte. Das funktioniert nicht mehr so gut, weil eine Gesellschaft, die gefallen will, schlechte Bewertungen bekommt. Ich muss also, aus rein beruflichen Gründen, im öffentlichen Raum wütend werden. Glücklicherweise hat die Generation meiner Eltern keine Puppe aus mir gemacht, die gefallen muss. Die neue SPD, nach Helmut Schmidt, will offenkundig keine Charakterköpfe. Sie will von erwachsenen Menschen mit Likes, Herzchen und Sternchen belohnt werden. Offenkundig muss Frau Giffey der SPD gefallen.