Unpassend

Eine getunt schöne Beschreibung für meinen Beruf könnte so klingen: "Die bunte Bestatterin macht aus jeder Bestattung ein Event." Die wahrheitsgemäße Beschreibung für meine Person und meinen Beruf lautet: "Absolut unpassend." Nach dem Tod meiner Mutter war meine Schwester kaputt, mein Vater war kaputt, meine Großmutter war - nach 2 Weltkriegen - endgültig kaputt. Sogar unsere Wohnung war kaputt. Ich persönlich wurde ein unpassender Teenager. Vermutlich steuern Kinder ihre Schulnoten bewusst. Wer will schon eine 1 in Sozialkunde, in Religion, in Geschichte, wenn die Mutter gestorben ist?! Wer will eine 1 in Mathe, wenn die höhere Mathematik zugeschlagen hat. 1 + 0 = 2. Ein Mädchen ohne Mutter wird auch heute nicht ernstgenommen. Viele Erwachsene machen Kinder dafür verantwortlich, dass sie selbst nie Psychologen geworden sind. Ein Mädchen, das seine Mutter verliert, wird auch heute zum Scheitern verurteilt. Das passt. Ich hatte Glück im Unglück, denn Berlin (West) war ein riesiger Themenpark: Pop, Punk, Rock 'n' Roll, Ska, Reggae, Chanson, Hardrock, Gastarbeiter, Hells Angels, Handwerker, Studierende, Baader-Meinhof Bande, Hausbesetzer und Familien tanzten auf jenem Parkett, das Ernst Mosch und seinen Egerländern gehörte, auf dem Heino Geschichten über schwarz-braune Haselnüsse und einer gewissen schwarzen Barbara erzählte. Es war eine Zeit, in der noch wenige italienische und französische Männer zeigten, dass Männer kochen und dabei singen dürfen, in der deutsche Männer von türkischen Männern lernten, dass man kein Pantoffelheld sein muss, wenn man die eigenen Räume sauber hält und seine Gäste barfüßig begrüßt. Glücklicherweise war Nina Hagen so unpassend, dass ich in Berlin komplett abtauchen konnte. Die Mauerkinder, die mit den Kümmeltürken und mit den Spaghettifressern spielten, obendrauf Negermusik hörten, die barfuß durch die Wohnung liefen, wenn Gäste kamen, waren in Deutschland zu unpassend. "Berlin besuchen? Ja. Da leben? Nein. Wir fahren nach Hause!" Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg war gesellschaftlich passend. Gefühle der hinterbliebenen Eltern konnte es nicht geben. Die öffentliche Trauer? Unpassend. Der Kriminalobermeister, Herr Karl-Heinz Kurras, Mitarbeiter (IM) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der damaligen DDR, Mitglied der SPD und der SED, wurde freigesprochen. Unbedrängt feuerte er aus seiner Dienstwaffe einen gezielten Schuss aus kurzer Distanz in Bennos Hinterkopf. Absolut unpassend wäre es auch heute, die richterliche Neutralität und Freiheit anzuzweifeln, um sie zu definieren. Das macht kein Mensch. Wer will ernsthaft - post mortem - Ulrike Meinhof die Aufmerksamkeit entziehen? In meinem unpassenden Beruf habe ich gelernt, dass der Tod nicht zum Leben passen kann. Er ist die ewige Opposition. Er ist die unverschämt nackte Wahrheit. Schonungslos eröffnet er. Der Tod ist nicht das sichtbare Sterben. Er ist Teil einer höheren Mathematik. Eine Gleichung könnte eine Unpassende sein: Er ist klein und doch so groß. Er ist banal und doch ein Labyrinth. Er ist Freiheit und doch ein ewiges Gefängnis. Wer eine passende Formel findet, der hat eine Art Gottesteilchen gefunden. Es ist meines Erachtens unmöglich. Das Kaputte kann das Passende nicht bieten. Es hat nicht die Natur der Vollkommenheit; keine weltliche Formel passt. Der Tod ist unpassend, weil er esoterisch religiöse Formeln aushebelt. Sie formulieren ein Leben, das wieder passend gemacht wird. Was also ist wann genau passend?