Die Begegnung mit dem Leben
22/07/24
Trauernde Kinder werden immer wieder - auch viele Jahre nach einem Todesfall - Geschichten hören, die ihrer Geschichte ähnlich sind. Und doch bleibt ihre Geschichte einzigartig. Es gibt viele richtig tolle Begegnungen, die berühren, weil sie offen sind. Es gibt auch merkwürdige Begegnungen, die belehrend sind. Es gibt auch die Begegnungen mit Menschen, die Geschichten toppen möchten. Wenn Elternteile sterben, egal an welchen Folgen, tauchen auch Fragen auf. Sie bleiben offen. Kinder lernen dadurch, dass Fragen nicht zwingend von einem Gegenüber beantwortet werden müssen. Ihre Fragen dürfen zunächst einfach aufgestellt werden. Fragwürdige Erwachsene brillieren sofort mit einer Summa cum laude-Antwort. Wissenschaftliche Fakultäten würden die meisten Eltern also durchfallen lassen. Unsere magische Welt lässt trauernde Kinder nicht einfach fallen. Sie schenkt ihnen unbefangene Begegnungen. Es sind keine Begegnungen mit dem Tod. Es sind keine fragwürdigen Begegnungen mit Geistern. Es sind keine Begegnungen mit Scharlatanen, die die Hinterhof-Exorzisten geben. Die Begegnungen kommen, wenn man die Antwort nehmen kann, wenn man die Antwort wirklich hören möchte. Ich nenne ein Beispiel aus meinem Leben. Meine Mutter starb vor unfassbar vielen Jahren. Sie nahm sich ihr Leben selbst. Sie lebte als Frau quasi in der falschen Zeit, denn der Kampf um gleiche Rechte ermöglichte erst meiner Generation ein wirklich frei wählbares Leben. Ich trug immer eine Frage in meinem Herzen: Könnte mir meine Mutter alles Glück in Freiheit wünschen? Oder sollte ich ein schlechtes Gewissen haben? Obgleich ich nie an der Großherzigkeit meiner Mutter zweifelte, hatte ich ein wenig Angst vor der Antwort. Ich wollte vielleicht etwas zu lange die gesellschaftlichen Mechanismen verstehen, die sie in den Tod getrieben hatten; und diese Mechanismen säen Zweifel. Früchte, die Trauernde generell nicht essen sollten. Vor kurzem hatte ich eine digitale Begegnung. Auf Instagram findet man nach einem Zufallsprinzip Reels, Fotos und Texte von Menschen, Stars, Firmen, Organisationen und Künstlern. Man steigt quasi quer ein und weiß zunächst nichts wirklich. Ich sah das Standbild einer Frau, die die Strahlung meiner Mutter hat. Große Augen, schöne Wimpern, kernige Kurzhaarfrisur, große klassische Ohrringe, sinnlich rote Lippen, ein präsent herzlicher und selbstbewusst verbindlicher Mensch. Im Alter von 20 Jahren, also 6 Jahre nach dem Tod meiner Mutter, hätte ich dieses Déjà-vu sofort bedeckt. Zu traurig, zu schmerzhaft, zu früh! Ich klickte auf das Bild und ein Reel startete. Die Frau sagte: "Ich weiß nicht für wen das jetzt ist, aber vielleicht ist das jetzt für Dich." Und dann erzählte sie, dass man manchmal eine Begegnung mit der Vergangenheit hat. Sie nannte es eine Begegnung mit dem Leben, das etwas fragt, weil man vielleicht an einer Schwelle steht. Und so fragt das Leben: "Willst Du zurück, weil Du denkst, dass es dann besser läuft? Willst Du die Geschichte, mit allen Gefühlen, nochmal durchleben? Oder übertrittst Du die Schwelle und gehst nach vorne?" Diese Frau im Internet hat eine schöne Stimme, einen sprachlich strukturierten Aufbau, eine eigene Dramaturgie und so klickte ich erneut ein Reel an. Plötzlich erzählte die Frau ihre persönliche Geschichte. Gleichermaßen erzählte sie, eine wildfremde Frau, die Geschichte meiner Mutter. Ich hörte ihr zu und ich finde es noch immer traurig, dass Menschen auch heute erleben, was Menschen in den 60er Jahren erlebten. Ihre Geschichte ist eine Geschichte, die alles Leben manipuliert und abtötet, die alles Leben gängelt, die wahre Worte im Keim erstickt. Es ist keine entfesselte Geschichte, die schöne Abenteuer birgt. Es ist eine Geschichte voller Klagen und Lügen. Es ist ein unsäglich schlechter Film, den kein Mensch sehen wollte. Und dann klickte ich zufällig jenen Reel an, der mir die Antwort auf meine Frage gab. Die Frau sprach großherzig, wie meine Mutter mit uns Kindern sprach, wenn es um unsere Zukunft ging. In dem Reel der Frau ging es um den Aufbruch aus einer vertrauten Welt, in der man sich sicher fühlt, weil man sie schlicht kennt. Sie erinnerte daran, dass man nicht in zwei Welten gleichzeitig leben kann; und sie erklärte die Angst, die aufkommt, wenn man über seine Brücke gehen muss, um seinen neuen Weg einzuschlagen. Sie beschrieb die Angst vor der eigenen Größe, vor dem eigenen Licht, weil die gesellschaftlichen Diffamierungen bekannt und fast schon gewohnt seien. Zum Abschied sagte die Frau ganz sicher und ruhig: "Ich möchte Dich heute ermutigen. Geh über die Brücke. Du hast es verdient. Daran wollte ich Dich heute kurz erinnern." In mir leuchteten alle Ahnungen auf und manifestierten sich. Meine Mutter nahm sich ihr Leben, weil sie uns Kinder aus einem Film sprengen musste, den miese Menschen noch heute ablaufen lassen. Sie hat jedem Menschen die Freiheit gewünscht und auch gegönnt. Sie wollte uns Kinder ins pralle Leben werfen.