Trugbilder im Todesfall

Trugbilder schleichen sich in den Sinn hinein. Kaum ein Mensch merkt es. Es läuft unterschwellig. Meine Mutter nahm sich im November 1980 das Leben. Erst Jahre später wurde mir klar, dass ich den November dafür verantwortlich machte. Er ist grau und matschig. Dauernd nieselt es. Es regnet, dann wieder schüttet es wie aus Kannen. Es ist kalt; und diese Kälte zieht nicht nur in den Körper. Sie zieht in die Knochen. Nebel liegt über der Stadt. Der November macht alle und alles schmutzig. Pfützen, vermengt mit alten Papiertaschentüchern, verwandeln sich in Matschpampen. Die Gerüche der Heizperiode ziehen durch die verregnete Stadt. Sie kratzen im Hals. Menschen erkälten sich, sie husten und keuchen... Ich könnte den November so derart grauenvoll beschreiben und damit einen regelrechten Shitstorm auslösen. Die breite Masse mag den November nicht. Radler müssen diese Gummivorhänge tragen. Sie werden von Autofahrern bekleckert, die durch Pfützen rasen. Mütter ohne Auto müssen im Regen die Einkaufstüten tragen. U-Bahnfahrer müssen ihre leicht feuchten Ausdünstungen ertragen. Es gibt keine Regenschirme in der Stadt, die man via App von einer Straßenbrüstung abnehmen könnte. Es gibt sicher Menschen, die den November mögen. Die Masse hat das Gegenteil gelernt. Ich brauchte viele Jahre und vielfältigste Trainigseinheiten für meine Sinne, um zu erkennen: Der Monat November hat mit dem Tod meiner Mutter nichts zu tun. Ich klammerte mich nur an den bösen November, um eine mir noch unbekannte Gesellschaft zu schonen, die ich im Alter von 14 Jahren eher nicht beurteilen konnte. Ich habe auf vielfältigste Art gelernt - die Augen aufzumachen und reale Bilder zu beschreiben, die äußerst unangenehme Wahrheiten eröffnen. Im Jahr 1980 war eine Gesellschaft klar definiert aber offen. Heute schließt sich Gesellschaft ab. Die Masse der in sich fertigen Trugbilder könnte etwas damit zu tun haben. Spiegel TV, seriöse Journalisten berichten am 9.10.19 über einen Mord in Berlin. Sie zeigen auf Youtube Bilder aus Überwachungskameras, die am Tatort entstanden: "…Am 10. Januar 2014 stürmen im Berliner Stadtteil Reinickendorf dreizehn teils vermummte Männer in ein Wettbüro…Ein Schütze eröffnet im Hinterzimmer das Feuer…Das Opfer, Tahir Ö.…. hat keine Überlebenschance. Er stirbt mit 26 Jahren…." Gerichte müssten schon hier eingreifen, um die Veröffentlichung von Beweismaterial zu verhindern. Das passiert merkwürdigerweise nicht. Was sehe ich tatsächlich? Ich sehe Männer mit Sturmmasken, die zielsicher in ein Geschäft laufen. Der Inhaber/der Mitarbeiter wirkt nicht irritiert. Er rückt leicht vom Tresen ab. Ein zweiter Mann, auf der anderen Seite des Tresens, raucht und schaut den maskierten Männern hinterher. Ein Mann feuert eine Waffe ab. Jene Männer verlassen das Geschäft. ENDE. Berliner Gerichte wissen, wie man sich, laut Gesetz, bei einem Todesfall zu benehmen hat. Wollte ich als Mutter des Toten dieses Video sehen? Nein. Wollte ich zwei untätige Männer an einem Tresen sehen? Nein. Wollte ich im Landgericht Tiergarten weinend im Flur gefilmt werden? Nein. Die Angeklagten, also die noch nicht Verurteilten, möchten im Gerichtssaal nicht gefilmt werden. Das Landgericht lässt Spiegel TV die leeren Plätze filmen. Das belegt eventuell den Gedanken, dass die Freiheit bereits vor einer Verurteilung ein Ende findet. Ein Anwalt bestätigt kurz, dass man in den Videos sehen kann, was man gerne sehen möchte, wenn man es vorher gehört hat. Ein anderer Jurist geht von einem Fehlurteil aus. Das Gewicht des Berichtes wird aber nicht auf kritisch wache Juristen gelegt. Am Ende weiß der Zuschauer de facto nichts: Es geht um die Hells Angels, um V-Männer, um einen Mord. Spiegel TV beweist, dass die Reporter keine Beweise für ein Urteil dokumentieren konnten. Achtmal lebenslänglich. Vielfältig haarsträubende Kommentare unter dem Youtube-Video bestätigen, dass Menschen den Trugbildern folgen, sich anheizen lassen: "Jetzt nehmen uns schon die Ausländer die Rockerbanden weg." Oder: "Das sind ja Urteile wie in Saudi Arabien, Ägypten, Iran." Oder: "Sogar Rockerbanden sind mittlerweile arabische Clans." Möchte eine Mutter so ein Theater, so einen Zirkus, so einen Rummel am Landgericht Berlin erleben, wenn man ihren Sohn erschossen hat? Ich zitiere aus einem aktuellen Urteil: "…Hier ist daher ein hoher Maßstab anzulegen und - aufgrund der auf Seiten des Auftraggebers regelmäßig in dieser Angelegenheit bestehenden hohen persönlichen Belastung und damit einhergehenden Sensibilität und Emotionalität, ein respektvoller, sachlicher und (!) empathischer, dabei gleichzeitig kompetenter und professioneller Umgang seitens des Vertragspartners, also des professionellen Bestatters erforderlich (Gaedke/Bestatt.Recht 12 Aufl. 2019, Kap. 21 Rn.6 der auf die Schutzbedürftigkeit der Verbraucher im Bestattungsgewerbe hinweist)… Ich selbst werde verurteilt, weil ich eine Mutter geschützt habe, die dem Trugbild einer gefälschten Generalvollmacht folgte. Das Gericht fordert in meinem Fall die Empathie für eine Person, die eine Generalvollmacht fälschte. Ja! Es war damals bequem und leicht und schnell, den November für den Tod meiner Mutter verantwortlich zu machen. Diesem Trugbild kann ich nur nicht mehr folgen. Zu gute Menschen haben mich ausgebildet.