Wertegemeinschaften

Ein Ehepaar in Königswusterhausen beschließt gemeinsam, dass es mit seinen drei Kindern aus dem Leben scheidet. Er schreibt den Abschiedsbrief. Für die Öffentlichkeit ist er ein Täter, ein Mann, der seine Familie und dann sich selbst tötet. In einem Brief schreibt er auch darüber, dass er seiner Frau einen gefälschten Impfpass besorgte und ihr Arbeitgeber dies erfahren hatte. Beide trieb die Angst vor einer Verhaftung und vor dem Verlust der Kinder. Nach dem Fund der fünf Toten am Samstag in einem Einfamilienhaus in Königswusterhausen gilt der Familienvater als verantwortlich. Der Mann hatte nach der Tat Suizid begangen. Der Abschiedsbrief weise auf den Täter hin. Ich persönlich lese zum ersten Mal, dass ein Ehepaar offenbar unter Todesangst Impfpässe fälscht. Die Frau wurde offenkundig von ihrem Arbeitgeber bedroht. Vielleicht drohte er mit einer Anzeige wegen….was? Fahrlässige Köperverletzung? Heimtückisch, hinterhältig geplante Übertragung einer Corona-Infektion? Sicher drohte er mit einer fristlosen Kündigung. Wie sonst gerät eine Frau und ihr Ehemann in eine solche Todesangst? In der kultivierten Indiskretion springt schnell ein Vorfall in die Gemeinde. Hat vielleicht eine Kollegin oder ein Nachbar im Ort gesagt: "Diese miesen Ungeimpften! Denen müsste man sofort die Kinder wegnehmen!" Wie hat der Arbeitgeber die Fälschung erkannt? Wie erkennt man einen gefälschten Impfpass? Muss ich, wie eine ewige Miss Marple, die ganz großen Krimis aufdecken, um womöglich die nächste Familie in den Tod zu treiben? Prompt fällt mir ein, dass ich vor 40 Jahren meinen Schülerausweis fälschte. Mit einer Rasierklinge schrubbelte ich vorsichtig mein Geburtsdatum aus der Pappe, änderte mein Geburtsjahr und kleckerte dann ein wenig Cola auf die Fälschung. Die Türen öffneten sich und schon fand ich Eintritt in die Welt der Erwachsenen, die keine Cola tranken. Bei jedem ich bin 16 hatte ich starke Herzklopfen im Hals. Dieser eine Türsteher wollte unbedingt einen Krimi und er drohte mir mit der Polizei. Hätte ich mir mit der Rasierklinge die Pulsadern aufschneiden sollen? 14-Jährige haben schnell Angst, schneller als 40-jährige Menschen. Ich bin über den Zeitungsbericht irritiert. Ganz klar wird der Ehemann und Vater zum Täter gemacht. Das ergibt aber keinen Sinn, denn die Frau ist bei ihrem Arbeitgeber aufgeflogen. Sie muss also ihrem Ehemann alles erzählt haben. Sie hat die Angst nach Hause gebracht und die Polizei hebt schließlich den gefälschten Impfpass im Interview mit dem Spiegel hervor. Ich bin ganz allgemein völlig irritiert. Carolin Emcke wird zum Beispiel über Ihre Vertragspartner, also Zeitungsverlage, in Krisengebiete, in Kriegsgebiete geschickt. Sie erkundet. Sie unterhält sich ausführlich mit Menschen vor Ort. Sie saugt auf, was eine Reporterin aufsaugen kann. Stimmung, Donner, Schreie, Kummer, Elend. Zustände. Missstände. Umstände. Sie kommt zurück und berichtet. Sie schreibt sogar Bücher. Minderwertig scheint wiederum die Geschichte jenes Ehepaares aus Königswusterhausen. Der Bericht klingt eigentümlich hastig. Ein Mann fälscht einen Corona-Impfpass für seine Frau. Sie fliegt bei ihrem Arbeitgeber auf. Er tötet sodann seine Familie. Der Fall soll keine Wellen schlagen. Der Fall soll sich nicht in den Herzen der Menschen manifestieren. Der Fall soll vergessen werden. Ihre Namen werden nicht erwähnt. Die Vornamen der Kinder würde sich jeder Mensch merken. Der Fall soll nicht reflektiert werden, damit der Impfzug nicht ausgebremst wird. Jeder Preis ist recht?