Die Freiheit

Nach einem Todesfall öffnet sich die Tür für ein neues Abenteuer. Menschen können nach der Trauerphase durch diese Tür gehen - oder auch nicht. Mein Opa ging eines Tages einkaufen und fiel in der berliner Arminius-Markthalle tot um. Meine Oma erzählte später, dass sie sich an dem Morgen kabbelten. Meine Großmutter lehnte Streit ab. Sie würzte ihre Worte - meist in der Küche. Ihre Sätze erinnerten an einen Kostprobenlöffel. Das Vorsicht heiß konnte um eine Zehntelsekunde zu spät kommen. Mein Opa war der einzige Mensch, der meine Oma dafür liebte - nur an diesem Tag nicht, der sein Todestag werden sollte. Unerwartet. Plötzlich. Unfassbar. Aus dem Leben gerissen. Meine Oma mochte diese großen, abenteuerlichen Worte nicht. Sie wurden viel zu direkt serviert, zu konfrontativ, zu dominant. Sie entzog sich, denn wer servierte ihr dieses Menü, das nie ein Mensch bestellt? Diese abenteuerlichen Fragen waren ihr zu groß, zu weit. Meine Oma wollte nicht ihre Struktur auflösen. Sie wollte meinen Opa zurück. Sie ist nie durch die Tür in die große, in die ultimative Freiheit gegangen. Als wir, ihre Enkelkinder, Irdische wurden, bei hohen Geburtsraten immer politische Umbauten durchgeführt werden, veränderte sich ihre Struktur an keinem einzigen Tag. Sie dokumentierte nichts, auch ihre Kochrezepte nicht. Sie hatte erst spät ein Telefon, weil sie Telefonate nicht mochte. Sie liebte Besuch und ihre Streifzüge durch den Kiez. Sie ließ sich sogar ihre Witwenrente bar auszahlen. Der Postbote war allen bekannt und vertraut, genau wie der Polizist, der täglich durch unsere Straße lief. Meine Oma mochte die Banken nicht. Sie zeigte uns damals diese riesigen Geldscheine, die durch die Weltwirtschaftskrise idiotisch viele Ziffern trugen. Sie traute den Banken nicht über den Weg: "Die sind mir nicht koscher." Politik betrachtete sie äußerst skeptisch. In Amt und Würden geblieben kam gar nicht gut bei ihr an. Sie ging jeden Monat zur Bank ihrer Vermieterin und zahlte ihre Miete ein. Sie ging zur Post, kaufte Briefmarken und zahlte ihre Stromkosten ein. Die Kontopflicht war erst für meine Generation gesetzlich geregelt. Meine Oma kapierte das sofort. "Sie wollen euch wieder listen und einen Reibach machen." Ich weiß heute, dass meine Oma dem Abenteuer Mensch nie den Rücken kehrte. Was man um sie und uns herum baute, zauberte und inszenierte war im Grunde nie ein Abenteuer. Am Ende wurde nur die Knechtschaft verändert. Die einen kommen nie aus der Arbeitsmühle. Die anderen können tatsächlich nie auf ihre Süßigkeitengefühle verzichten, was viel schlimmer ist, weil sie ihre Knechtschaft nicht einmal erkennen. Meine Oma lehnte sich gegen jede Form der Knechtschaft auf: "Reisende darf man nicht aufhalten." Welchen Wert hat eine Freiheit, in der sich Menschen andere Identitäten zulegen, sich andere Namen im Internet geben. Sie übersteigt den Wert der Isolation nie. Nehmen wir an, Hunde und Katzen übertragen die nächsten tödlichen Viren. Die Hundehalter und die Katzenhalter sind sofort ermittelbar. Die Tiere werden, im Gesetz eine Sache, eingeschläfert. Tierschutzgesetze werden sofort ausgehebelt. Wer verkaufte wohlige und sichere Gefühle? Jene Industrie, die dafür sorgte, dass Haustiere einen teuren Chip unter der Haut tragen müssen. Welche wirklichen Abenteuer beginnen nach einer Trauerphase?