Illusionen

Die christliche Kirche war über viele Generationen in meinem Berufstand verwurzelt. Sie schrieb eine Erdbestattung für Christen vor, weil nur Sünder, Diebe und Selbstmörder verbrannt wurden. Die Strafe Gottes war gelebte Realität. Das strikt moralisch kollektive Überich, jenseits von Ernie&Bert, war dermaßen groß, dass die Bevölkerung zur Kichenvertretung wurde. Die Feuerbestattung musste bis in die 80er Jahre schriftlich verfügt werden. Kein Bestattungsberechtigter durfte die verwerfliche Feuerbestattung für seinen Verstorbenen entscheiden. Dieser Glaube floss in die Gesetzgebung ein. Meine Großmutter hatte so eine Verfügung. Sie beschloss für sich eine Feuerbestattung. Und trotzdem trat sie nie aus der Kirche aus. Sie war eine Autorität. Sie wollte niemandem gefallen. Nach zwei Weltkriegen hatte sie ein eigenes moralisches Überich entwickelt: "Ich bleibe in der Kirche, damit Einsame dort ein Kaffeekränzchen erleben." Die Frauen der Generation meiner Großmutter überzeugten mich. Sie waren natürliche Autoritäten. Jeder kannte den Namen meiner Großmutter. Die Frau in der Wäscherei, der Postbote, der Fleischer, die Bäckerin, mein Schuldirektor. Ich wollte keine Revolten anzetteln. Ich beobachtete Menschen, denen ich unterstellt wurde. Ganz weit unten, am Fuße der schweren öffentlichen Instanzen, gab es keine Möglichkeit Fehler aufzudecken. Brav strebende Musterschüler mussten den Lehrern gefallen. Die Kontroverse war nicht erwünscht. Und doch wurde eine rege Beteiligung am Unterricht gefordert. Das ist ein bedauerlicher Start ins Leben, wie ich finde. Ich arbeitete ein Glück für Firmen, die nicht gefallen wollten. Ich liebte Künstler, die nicht gefallen wollten. Ich mochte Modemacher der Berliner Offline, die nicht gefallen wollten. Die Gay Szene war eine Schatzinsel, auf der Menschen wirkten, die nicht gefallen wollten. Es gab keine Meinungsfreiheit. Es gab kultivierte Kämpfe am Fuße der mächtigen Instanzen. Kirche-Staat und Homosexualität, AIDS, Eheschließung. Kirche-Staat und Abtreibung. Kirche-Staat und Adoptionsrecht. Kirche-Staat und häusliche Gewalt. Kirche-Staat und Kriegsgegner. Kirche-Staat und Anerkennung von Totgeburten im Personenstandsgesetz. Kirche-Staat und Scheidungsschlachten. Eine Meinungsfreiheit in Deutschland ist heute kurioserweise stärker in Gefahr. Sie ist nicht vergleichbar mit anderen Staaten. Die Meinungsfreiheit setzt voraus, dass die Instanzen an Deiner Meinung interessiert sind. Sie sind es nicht. Jede Veränderung in diesem Land musste mühselig erkämpft werden - sogar der moderne Grabschmuck. Wer eine intakte Meinungsfreiheit bei steigender Gewalt gegen Frauen verkündet, sagt, dass er sein moralisches Überich in Gänze verloren hat.