Aggressive Hysterie

Als AIDS Menschen ins Unglück trieb, wurde die Gesellschaft aggressiv-hysterisch. Die durch HIV infizierten Menschen hingegen machten aus der weltweiten Not eine Tugend. Sie bauten Häuser für ein lebenswertes Leben in Ausgrenzung. Sie bauten Hospize. Sie vererbten Geld für die Forschung. Sie installierten in den Kirchen Gedenktage. Damit ging zwangsläufig einher, dass krebskranke Menschen offen über ihre Krankheit sprechen konnten. Das Perücken-Theater mit aufgemalten Augenbrauen konnte ein Ende finden. Weltweit werden die Toten geehrt. Ihre Kreativität, ihre Lebensfreude, ihre Liebe wird gezeigt. Der Welt-AIDS-Tag ist eine Art Totensonntag geworden. Ich erinnere in den USA unendlich lange Quilts, die die Toten in den Straßen verstofflichten. Der Pride March, der Christopher Street Day ist keine bloße Tuntenparade für den RBB. Die Parade ist kein Streichelzoo für Menschen, die mal einen flippigen Ausflug verbuchen wollen. Dieser Tag ist keine Schlachteplatte für Parteien, für Konzerne, die Überwachungssysteme verkaufen, die also an den übrigen 364 Tagen so tun, als gebe es AIDS nicht mehr, als gebe es im Grunde keine homosexuellen Ärzte, Polizisten, Soldaten, Politiker. Die Weinkönigin der CDU dankt nicht dem Feminismus für Ihren Stuhl. Sie dankt der CDU dafür und deshalb wird sie die Regenbogenfahne nicht hissen. Respekt! Auch Herr Merz von Black Rock hat seine Fahne gefunden. Er bekräftigt seine Weinkönigin, indem er sagt, dass er nicht in einem Zirkus wirken möchte. Mit dem Zirkus meint er sicher Jens Spahn. Respekt! Hysterische Aggressivität sägt immer am eigenen Ast. Der Christopher Street Day hat in Deutschland dazu geführt, dass sich die Mutter von Bill Kaulitz etwas sicherer fühlen kann. Er hat dafür gesorgt, dass Jens Spahn in die CDU gelangte. Er hat dafür gesorgt, dass Anne Will nicht im ZDF gecancelt wurde, wie einst Hella von Sinnen. Er hat dafür gesorgt, dass der Paragraph 175 abgeschafft wurde, der homosexuelle Menschen in einen Topf mit Menschen warf, die Unzucht mit Tieren betreiben. Dieser eine Tag ehrt jene Menschen, die in jener Christopher Street ihre Beziehung mit einer indoktrinierten Gesellschaft beendeten. In dieser Straße stieg ein Phoenix aus der Asche, der die Welt bewegte, berührte, zum Nachdenken brachte. In dieser Straße wurde ein Manifest in die Welt gerufen, das ein Leben - eingeschlagen mit Knüppeln und Eisenstangen, malträtiert mit Elektroschockbehandlungen, einbuchstabiert durch fanatische Exorzisten, gefangen in Handschellen, gedemütigt in künstlichen Eheschließungen, akribisch registriert in staatlichen Archiven - beendete! Ein wahrhaftiges Leben konnte tief einatmen, ausgehen, tanzen, küssen, lieben. Homosexuelle Menschen stellten sich gegen die aggressive Hysterie der Gesellschaft auf. Sie erklärten sogar den Dümmsten, dass Homosexualität keine übertragbare Krankheit ist. Sie erklärten den grässlichsten Ungepflegten dieser Welt, dass die sich jederzeit frei in jeder Sport-Dusche bücken könnten, um ihre Seife dann endlich zu finden. Schließlich waren es homosexuelle Männer die ganze Industrien bewegten. Jeder heterosexuelle Mann kann heute eine Maske auflegen, eine Tagescreme und eine Nachtcreme nutzen. Er kann 300 Parfums in sein Badezimmer stellen und er kann Schmuck anlegen. Er kann seine Tränensäcke mit Gurkenpads behandeln. Homosexuelle Männer haben dafür gesorgt, dass man ihn niemals als schwule Drecksau betitelt. Beschämte Mütter und Väter, die immer für schuldig befunden werden, kamen aus der aggressiven Hysterie heraus. Ein perfides Gefängnis voller perverser Demütigungen. Die Pride Parade ist ein kreativer Spiegel der aggressiven Hysterie. Alle Demütigungen und Schmerzen vereinen sich in fabelhaften Kostümen. Jede Schminke übermalt die kleinkarierten Skizzen über Homosexuelle. Die Trans-Formation ist immer ein Spiegel, eine Möglichkeit, eine Erfahrung. Jeder muskulöse Lederbär, jeder Tom of Finland zeigt auch die Transformation einstiger Peiniger, jeder Hund zeigt eine Geschichte. Warum sollte die ehrbare Regenbogenfahne schlaff an einem Haus baumeln, in dem Menschen ihre eigene Orientierung verloren haben? Welche Maßstäbe will eine Weinkönigin, die von Nestlé (!) gefüttert wurde, setzen? Diese Fahne war immer nur Schmuck für schlimmste Homophobe, die selbst keinen politischen Plan hatten. Tatsächlich schämten sich sogar Politiker für die harmlose Deutschlandfahne. Warum sollten ausgerechnet Homosexuelle die Unordnung einer aggressiv hysterischen Gesellschaft in Ordnung bringen? Warum sollten sie labile Orientierungslose unter ihre Fahne nehmen? Das können nur Menschen wollen, die an ihren alten Peinigern kleben, die noch immer betteln, die sich selbst an fremde Ketten legen und dabei hoffen, dass eben diese Peiniger sie endlich tolerieren.