Das traurige Mädchen

Am Freitag, dem 13. November 2015 starben in Paris Menschen. Geplante Attentate klingt sauber und gebügelt, klingt nach "Wir waren es nicht. Wir sind die Guten und anständigen Menschen." 130 Menschen starben und 683 wurden verletzt. Ich finde ein schmutziges Massaker, das aus der kollektiven Erinnerungsschablone gefallen ist. Es schwimmt im virtuellen Meer, zwischen Plastikbechern, blutigen Shirts, Bierflaschen, Schuhen, Westen, Patronen und Teilen von Scheinwerfern. Im virtuellen Meer ist die Vergangenheit immer Gegenwart. Menschen tanzen im vollen Bataclan-Theater. Eine amerikanische Metal-Band gibt ein Konzert. Es ist dunkel im Raum, nur die Bühne ist beleuchtet. Das Düstere wird rockig abgefeiert. Die Besucher können vertrauensvoll in der Hölle springen und tanzen. Sie müssen keine Angst haben. Schließlich sind es nur Musiktexte. Die Hölle wollen sie nie wirklich. Es ist nur ein Spiel. Es vertreibt die Zeit. Die Dämonen werden nicht wirklich gerufen. Sie werden nur zum Spaß beschworen. Menschen wollen einfach an einem Freitag gepflegt die "Sau" rauslassen. Sie arbeiten. Sie sind gestresst. Sie sind arbeitslos. Sie sind gestresst. Es tut niemandem weh. Die Stimmung im Bataclan ist toll. Die Stimmung ist enthemmt. Die Verklemmungen lösen sich im Tanz, in der Lautstärke. Das verbindet gute Menschen. Der Pogo-Schubser, das verschüttete Bier, der versehentliche Ellenbogen im Rücken gehört kameradschaftlich zum Tanz. Kein Mensch will die Formel sprechen, die den Devil wirklich erscheinen lässt. Die Lautstärke der Band übertönt endlich den alltäglichen Stress, den Terror im Kopf. Die amerikanische Metal-Band vernichtet die bösen Energien. Sie bekämpft das Böse mit bösen Texten, so, wie man Feuer mit Feuer bekämpfen kann. Die Band ist laut. Sie muss laut sein. Endlich kann man laut sein und schreien. Und dann betritt das Böse den Raum. Schüsse fallen. Viele Schüsse fallen. Wie ein Häschen schaut der Gitarrist, ein Bär von Mann, irritiert in die Dunkelheit, als kämen Showeffekte, die niemand bestellt hatte. Schüsse fallen. Menschen fallen. Menschen schreien. Das Böse hat den Raum betreten. Das Echte hat den Raum betreten, das keinen Spaß machen will. Das Ernste hat den Raum betreten, das man beim Wort nehmen muss. Das Theater verwandelt sich in kurzer Zeit in die Hölle, die keiner wirklich wollte, die alle nur spielen wollten. Der Teufel ist los! Er wütet. Er spielt nicht. Er feuert Kugeln aus Kriegsgewehren. Er beendet das Theater. Das Theater ist vorbei! Die Seele von Paris ist zerknautscht vor Angst. Die Stadt der Liebe kann nicht mehr richtig lieben. Paris hat ein blutendes Herz. Es hat ein gebrochenes Herz. Paris hat schlechte Träume. Das Herz von Paris ist wund. Paris hat großen Kummer. Paris staubt sich ab und geht arbeiten. Paris verdrängt das Trauma. Alles wird gut. Die Zeit heilt alle Wunden. Paris gibt sich stark und unbeugsam. Politiker können den Menschen nichts geben. Sie wollen nicht helfen. Plötzlich taucht in der Stadt der Liebe ein Mann auf. Er trägt eine Jeans. Er zieht eine Kapuze tief in sein Gesicht. Am Bataclan-Theater zieht er Dosen und Papier aus seiner Tasche. Er sprüht ein Mädchen an die Eingangstür. Das Kind ist staatenlos. Es wirkt introvertiert, scheu und ungefährlich. Banksy ist gekommen! Er schenkt der traurigen Paris ein unschuldiges Mädchen. Paris pilgert zum Bataclan. Hinterbliebene stehen vor der Tür; und zum ersten Mal können sich ihre Tränen lösen. Banksy macht ein Geschenk. Paris ist gerührt. Sie tauft sein Geschenk auf den Namen Das traurige Mädchen. Der Eingang des Bataclan ist fast heilig. Banksy hat eine Erinnerung geschenkt. Er hätte auch eine Tür aus Gold schenken können. Das tat er aber nicht. Einige Zeit später steht jenes Böse vor der Tür, das wir gut nennen. Ein Transporter hält vor dem Theater. Drei Männer flexen die Tür aus ihren Scharnieren und wuchten sie in den Transporter. Sie stehlen, sie entführen das traurige Mädchen. Mit dem Diebstahl schnellt in kurzer Zeit ein Geldwert in unendliche Höhen. Die Tür hat plötzlich einen Wert von 800.000 Euro. Der Teufel, der nur immer zum Spaß beschworen wird, wütet wild. Er will die Täter fangen. Er will sie im Gefängnis sehen. Eine einst wertlose und ignorierte Tür eines Theaters wird zum Börsenobjekt - weil Banksy schrieb: "Liebe Paris. Seien Sie meiner Anteilnahme gewiss." Mit dem traurigen Mädchen drückte er der Stadt der Liebe sein Mitgefühl aus. Und die "Guten" zanken. Sie denken sich einen Preis für seine Empathie aus. Seine Empathie wird auf 800.000 Euro beziffert. Banksy wusste vorher, dass Paris ihrer Trauer beraubt wird!