Ausbildung vs. Märchenstunde

In meinem Beruf ist die Wahrheit wesentlichster Faktor für eine bestmögliche Dienstleistung. Hierbei half mir meine - wie ich finde - gute Erziehung enorm: "Sag die Wahrheit, komm auf den Punkt und rede nicht um den Brei herum." So konnten wir Kinder später natürlich auch unsere Eltern - hier und da - ertappen. Das ganze ergab eine gewisse Augenhöhe und Gespräche wurden möglich. Als ich mich das erste Mal mit Trauernden unterhalten durfte, merkte ich, dass die deutsche Sprache harte Worte beinhaltet: Verbrennung, Leiche, Sektion, Beschlagnahmung. Es brauchte also, jenseits einer Märchenstunde, Umschreibungen: Kremierung, Verstorbener, Untersuchung, Sicherung bis zur Untersuchung. Meine Ausbilder bestätigten mir glücklicherweise, dass meine Erziehung tatsächlich gut war. Wenn ein Bestattungstermin bei einem Friedhof nicht realisierbar ist, sollte man kein Versprechen geben, welches das erste Nein herausschiebt. Es wird am Ende ärgerlicher, weil es der Kunde gleich hätte hören wollen. Wenn ein persönlicher Abschied nicht möglich ist, dann sollte man nicht pseudointelligente Varianten eines persönlichen Abschieds erfinden. Ein Celebration of Life wäre eine Alternative, also keine Variante, wenn der persönliche Abschied verwehrt werden muss. Wirklich Trauernde verstehen das, dass man alle Beteiligten schützen möchte und muss. Deshalb gibt es zum Beispiel auch Hygienegesetze. Im Zeitalter der Automatisierung geht der Kontakt zwischen den Menschen verloren. Jede noch so gute Erziehung wird versinken, wenn kleine, also junge Menschen aus der Übung kommen. Erziehung ist eine Form der Sprache, die man immer wieder trainieren muss. Ausbildung ist eine Form der Sprache, die man ebenfalls trainieren muss. Es ist lässig, wenn man Möglichkeiten findet, um seine Etikette auszubauen. Es ist fahrlässig zu nennen, wenn man Erziehung und Bildung durch Märchen ersetzt. Ich nenne ein Beispiel aus meinem privaten Alltag. Ich scanne bei der Bank eine Überweisung ein. Die Kopie behalte ich. Es kommt ein freundlicher Brief der Bank. Sie konnte den Geldfluss nicht veranlassen. Die Kontonummer des Empfängers stimmt nicht. Die Bank berechnet hierfür 0,97 Cent. Auf meiner Kopie stimmt die Kontonummer. Ich rufe also bei der Bank an. Nach einem Musikstück meldet sich ein junger Mann. Er sieht sich den Beleg an, kann aber auf keinen Fall den Betrag erstatten, weil: "Das wird über den Scanner alles automatisch verarbeitet und ich sehe hier ganz deutlich, dass sie Ihre eigene Kontonummer nicht richtig geschrieben haben. Deshalb sollten sie online arbeiten." Durch den ersten Fehler entlarvt, konstruiert er einen zweiten Fehler. Habe ich Zeit gespart? Nein. Ich muss für ihn denken: "Der Scanner nimmt die Überweisungen an. Stellen sie sich bitte kurz das Chaos vor, würde kein Mensch die Belege buchen. Ein fehlendes Komma könnte Kontorahmen sprengen. 0,97 Cent bei 1000 Kunden wären in der automatischen Welt ein ziemlich guter Gewinn." Er kann seine Aussage nicht korrigieren, weil er nicht ausgebildet wurde. Ich fahre in die Filiale und treffe eine zauberhafte Mitarbeiterin, die eine überaus gute Erziehung und eine offenkundig gute Ausbildung genossen hat. Sie korrigiert schlicht den Fehler und entschuldigt sich. Ich würde mich gerne mit Frau Prof. Dr. Miriam Meckel darüber unterhalten, welche Märchen in den Angeboten der digitalen Welt schlummern, um eigene Konzepte in Deutschland entwickeln zu können. Bedenklich finde ich, dass ein Mensch bereits wegen 0,97 Cent Märchen erfindet.