Kinder auf dünnem Eis

Wenn ich das Grab von Rio Reiser auf dem St. Matthäus Friedhof besuche, zelebriere ich einen tiefen Hofknicks vor dem König von Deutschland. Bei jedem Besuch denke ich an Ulla Meinecke. Vielleicht ist sie in meiner Matrix seine hinterbliebene Gattin, seine Schwester, seine Lebensgefährtin. Vielleicht verknüpfe ich beide, weil sie beide in der Berliner Kultur verknüpft sind. 1983 war ich 17 Jahre alt. Der Tod meiner Mutter begleitete mich erst 3 Jahre. Meine wahren Trauerhelfer waren die Drogenabhängigen, die am Bahnhof Zoo und in der Kurfürstenstraße ihren Treffpunkt hatten. Diese Berliner Bahnhöfe beschrieben, was man knapp 10 Jahre später mit dem Film Matrix kultivierte. In einer gesichtslosen Großstadt kommt eine Art Messias in das Leben eines Mannes, der tagsüber für eine Software Firma Computer programmiert und nachts als Hacker unterwegs ist. Er wartet auf ein Signal, bis dann schließlich Morpheus erscheint, der ihm Pillen anbietet. Er entscheidet sich und nimmt den Platz ein, der ihm zusteht. Natürlich ist er der Auserwählte - durch eine rote Pille! Am Berliner Bahnhof Zoo und am Bahnhof Kurfürstenstraße gab es auch eine Art Trainman, ein Programm, das den Zwischenwelt-Bahnhof kontrollierte. Auch er arbeitete im Auftrag eines Merowingers, der diese Zwischenstation als Verbindung benutzte, um Programme in die Matrix oder aus ihr heraus zu schmuggeln. Damals dachte ich, dass so ungeheuer viele Menschen starke Drogen einnehmen sollen. Wache Menschen hätten die Berliner Mauer vielleicht viel eher eingerissen. Ich habe nie wieder so derartig viele Menschen in der Öffentlichkeit gesehen, deren Körper durch harte Drogen fast tot waren. Auserwählte traf ich nie. Gleichermaßen ließ ich jeden in seinem Glauben. Ich habe nichts zerstört. Nach einem Todesfall sollte man keinerlei Drogen nehmen. Sie betäuben Trauer und Freude gleichermaßen. Kein Betäubter kann über dünnes Eis gehen. Wirklich Trauernde reisen mit leichtem Gepäck. Instinktiv wissen sie, dass man leichtfüßig und elegant über das Eis kommt. Betäubte, egal welche Mittel sie anwenden, brechen immer nur ein. Ulla Meinecke hatte das schon 1983 verstanden. Für welche "Pillen" entscheiden sich Teenager heute? Herr Steinmeier warnt vor einer Entfremdung von Gesellschaft und Armee. Er hat nichts verstanden.